Kindheit

Mein Elternhaus in Essen

Im September 1939 kam im Radio die Nachricht vom “Überfall“ in Polen. Meine Mutter wusste gerade, dass sie wieder ein Kind erwartet. Ich war unterwegs. „Oh mein Gott, das gibt bestimmt Krieg“, dachte meine Mutter, als sie die Nachricht hörte. Sie sollte Recht behalten.
Im März 1940 wurde ich geboren.

Besondere Ereignisse prägen sich ein - auch schon in frühester Kindheit.

Ich erinnere mich an den Besuch meines Onkel Willi. Mit Paketen und Päckchen beladen kam er zu uns zu Besuch. Er hatte eine Uniform an und kam mir sehr groß vor. Die Geschenke wurden ausgepackt und ein bunter Kreisel aus Blech faszinierte mich. Wir gingen vor das Haus und ließen den Kreisel summen und tanzen. Onkel Willi nahm mich hoch und schwenkte mich weit durch die Luft. Das hatte noch nie jemand mit mir gemacht und ich fand es toll. Weiter reicht meine Erinnerung hier nicht. Ich weiß nur, es war im Sommer 1943, ich war etwas mehr als drei Jahre alt. Von meiner Mutter weiß ich, dass es der letzte Heimaturlaub von Onkel Willi war. Er kam nie mehr zurück und meine Oma weinte viel.

Onkel Willi war der Lieblingsbruder meiner Mutter, er war vier Jahre jünger als sie und 24 Jahre alt als er in Russland fiel.

Eine weitere Erinnerung machte mir Angst. Ein weißer Irrwisch geisterte in einem abgezäunten Gehege hin und her und machte einen unbeschreiblichen Lärm. Immer, wenn ich dieses Gehege passieren mußte, hatte ich Angst.
Später sagte mir meine Mutter, dass ein weißer Spitz in einem Zwinger laut kläffend hin- und her rannte wenn Fremde vorbeikamen.
Es war die Zeit unserer ersten Evakuierung. Zum Schutz vor den Bombenangriffen im Ruhrgebiet wurden allein stehende Mütter (deren Männer als Soldaten oder aus anderem Grund im Krieg waren) mit ihren Kindern auf’s Land verschickt. Unsere erste Reise ging nach Österreich und zwar nach Reisemark, einem Flecken in der Nähe von Baden bei Wien. Ich war 3 ½ Jahre alt. Wir waren zu dritt: Meine Mutter, meine drei Jahre ältere Schwester Marlies und ich. Ich kann mich erinnern, dass wir in einem alten Haus auf einer Holzbank saßen und aus weißen Blechtassen mit blauem Rand Milchkaffee tranken. Von meiner Mutter weiß ich, dass es ein Bauernhof war, und dass die Bäuerin uns Fremde eher mürrisch und unfreundlich aufnahm. Der weiße Spitz war hier zu Hause.

Dann war ich in einem großen Haus - ohne meine Familie. Es waren noch andere Kinder dort und ein paar Erwachsene in weißen Kleidern. Ich lag in einem Bett. Neben mir rechts und links standen weitere Betten und in jedem Bett lag ein Kind. Zu meiner linken war ein Mädchen namens Monika und das hatte eine Mundharmonika.
Dieses Wortspiel faszinierte mich, und ich wollte mir die Mundharmonika gerne einmal näher anschauen. Bei dem Versuch, sie von Monika zu übernehmen, fiel ich aus dem Bett und bekam natürlich Schimpfe von den weiß gekleideten Frauen.
Meine Mutter kam zu Besuch, aber sie blieb hinter einer Glasscheibe stehen, so dass sie mich nicht in den Arm nehmen konnte.
Heute weiß ich, dass ich wegen Scharlach im Krankenhaus lag und wegen der Ansteckungsgefahr keinen näheren Kontakt haben durfte. Als ich wieder gesund war, holte meine Mutter mich ab. Da es keine oder nur unbezahlbare Fahrgelegenheiten gab, ging sie mit mir den langen Weg - etwa 12 km - zu Fuß. Ich war noch ziemlich schwach, weshalb sie mich streckenweise auf den Schultern trug. Sie war im siebten Monat schwanger und ziemlich am Ende, als wir endlich wieder „zu Hause“ waren.

Unser Aufenthalt in Reisemark ging dem Ende entgegen und wir reisten zurück ins Ruhrgebiet. Kurz vor der errechneten Niederkunft wurde meine Mutter nach Winterberg im Sauerland in ein Entbindungsheim geschickt. Dort kam im Dezember mein Bruder Hans-Willi zur Welt. Eigentlich hätte er Willi heißen sollen - nach meinem Onkel, der Pate werden sollte. Onkel Willi war aber tot und so wurde der nächste Bruder meiner Mutter, Onkel Hans, sein Pate und mein Bruder bekam einen Doppelnamen zum Andenken an Onkel Willi. Während dieser Zeit wurden wir von meiner Oma versorgt, bei der wir auch wohnten.

Wir hatten beide Großelternpaare in der Nähe wohnen, aber wir Kinder sprachen nur von „unserer Oma“ und der „Oma an der Ecke“. Die Opas spielten sowieso keine Rolle in unserem damaligen Bewusstsein.
„Unsere Oma“, das war die Mutter meiner Mutter, die immer dann einsprang, wenn sie gebraucht wurde. Die „Oma an der Ecke“ war die Mutter meines Vaters. Sie wohnte an einer Straßenecke in der Krupp-Siedlung, in der wir alle wohnten. Die Kontakte zu ihr waren beschränkt auf Besuche zu Weihnachten oder anderen größeren Anlässen.

Ich erinnere ich mich an die Wohnung unserer Oma. Alle Betten und Sessel waren belegt. Ich musste in zwei gegeneinander geschobenen Sesseln schlafen - in Kleidern inklusive Mantel und Mütze. Auch alle Erwachsenen gingen angekleidet zu Bett. Die Toilette meiner Großeltern befand sich außerhalb der Wohnung in einem umgebauten Schweinestall, der nur durch eine ungeheizte Halle zu erreichen war - im Winter war es dort sehr kalt. Wir gingen nachts alle auf einen dafür bereitgestellten Eimer. Mein Opa hatte zu der Zeit entweder eine Blasenentzündung oder schon Beschwerden mit der Prostata. Jedenfalls habe ich das stotternde Geplätscher in den Zinkeimer noch allzu gut im Ohr.

Es war der Winter 1943/44. Irgendwann nachts heulten die Sirenen. Alle sprangen von ihren Lagern hoch und es ging im Eiltempo in Richtung Bunker. Meine Mutter schob den Kinderwagen mit meinem Bruder. Ich saß vorne auf der Kante des Wagens, meine große Schwester rannte nebenher; meine Oma rannte vorneweg und mein Opa bildete die Nachhut.
Im Bunker waren schon viele Leute, hauptsächlich Frauen und Kinder. Der Bunker war wie eine lange Röhre gebaut und rechts und links an den Wänden entlang standen Holzbänke ohne Lehnen. Dort saßen dann die Menschen dicht an dicht. Oft mußten die Kinder stehen oder saßen auf dem Schoß der Erwachsenen, weil es nicht genügend Platz für alle gab. Manchmal gab es eine Alarm-Pause und wir durften hinaus - vor die Röhre. Wir Kinder spielten dann mit Kieselsteinen, die in einem großen Haufen vor dem Eingang lagen. Wir schlugen die Steine aneinander und wenn es dunkel genug war, konnte man die Funken sehen, die die Steine schlugen.
Beim nächsten Sirenengeheul mußten wir dann wieder in die Röhre. Wegen Platzmangel bestand dort unser einziges Spiel im „Faden abnehmen“. Man spannt einen zum Rund zusammen-geknoteten Faden über die Finger beider Hände und je nach dem, wie man sich den Faden gegenseitig abnimmt, entstehen immer neue Fadengebilde die Namen hatten wie Wasser oder Brücke oder Haus usw. Wir sind oft zum Bunker gerannt, weil die Sirenen oft heulten.
Noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich eine Sirene heulen höre.

Dort, wo wir wohnten, also meine Mutter und wir Kinder, gab es nur einen sogenannten Hochbunker. Meine Mutter hielt ihn nicht für sicher. Also wohnten wir lieber bei der Oma. Der dort zuständige Bunker war in einen bewaldeten Hügel hineingebaut.

Später wurden wir wieder verschickt, diesmal nach Horb am Neckar. Das war im Frühjahr 1944. Die Schwester meiner Mutter, Tante Ria, die inzwischen auch ein Baby hatte, fuhr mit.
Wir wohnten in einem alten Haus, das an einen Hang gebaut war, so daß der Keller zur Gartenseite hin frei lag. Außer uns wohnte dort noch die Hausbesitzerin Frau Rimmele mit ihrer Tochter Waltraud.
Wir hatten zwei Zimmer, einen Wohnraum mit Kochgelegenheit und ein Schlafzimmer. Die Toilette befand sich auf dem Treppenabsatz im ersten Stock. Es war ein Plumpsklo, das wie eine dicke Brettersäule am Haus klebte. Wenn man darauf saß und was fallen ließ, dauerte es eine Weile, bis man den Plumps hörte. Zum Abwischen benutzten wir Zeitungspapier.
Meine Mutter fand das eklig und fühlte sich nicht wohl. Aber wir Kinder konnten draußen spielen, Reisig sammeln für den Ofen, aus Steinchen Figuren auf die Erde malen oder im Winter auf dem nahe gelegenen Hügel Schlitten fahren. Meine große Schwester ging oft mit uns Kindern spazieren, meinen Bruder im Kinderwagen, ich nebenher. Aber weil sie erst sieben Jahre alt war, wollte sie selbst auch noch gerne spielen. Also stellte sie den Wagen irgendwo an die Seite und spielte dann mit gleichaltrigen Kindern Nachlaufen oder Verstecken. Ich durfte oft nicht mitspielen, weil ich zu klein war und nicht so schnell laufen konnte. Dann mußte ich auf meinen Bruder aufpassen. Er war ein ganz ruhiges Kind. Ich erinnere mich nicht, dass er auch nur ein einziges Mal geschrien hätte.
Einmal, der Kinderwagen stand am Straßenrand, kippte der Wagen um, Hans-Willi fiel heraus und rollte den ganzen Hang hinunter durch Gras und Brombeergestrüpp. Der Unfall ließ sich nicht vertuschen, weil mein Bruder ganz zerkratzt war, er sah aus wie ein Indianer, sagte meine Mutter, sonst fehlt ihm aber nichts.
Meine Schwester bekam Prügel. Es nützte ihr nichts, die Schuld auf mich abzuwälzen, sie hatte die Verantwortung.
Ein andres Mal haben wir am Ufer des Neckar gespielt. Der Neckar war an der Stelle wie ein breiter Bach. Ich sehe ihn in meiner Erinnerung etwa zwei Meter breit und vielleicht einen halben bis dreiviertel Meter tief. Hier und da schauten Äste oder dicke Steine aus dem Wasser. Dort floss dann das Wasser etwas schneller.
Wir warfen Zweige ins Wasser und schauten zu, wie sie von der Strömung getrieben wurden oder irgendwo hängenblieben. Irgendwie bin ich dann abgerutscht und ins Wasser gefallen. Ich weiß noch, daß mein Mantel sich auf dem Wasser bauschte und ich dahintrieb. Irgendwie gelang es mir, meinen Kopf über Wasser zu halten. Ich wollte mich immer wieder auf die Beine stellen, aber das Wasser ließ es nicht zu. Dann kam meine große Schwester ins Wasser und fischte mich heraus. Zu Hause gab es dann wieder Ärger für sie. Für mich natürlich nicht, ich war ja das kleine dumme Ding, auf das sie aufzupassen hatte. Meine Schwester war damals etwa 7 ½ Jahre alt.

Manchmal ging Waltraud Rimmele mit uns an den Neckar. Einmal bekamen wir einen großen Schreck, Waltraud hatte eine „Schlange“ im Wasser gefangen. Sie lachte uns und unsere Angst aus und erklärte, dass sie einen Aal gefangen hätte und den könne man essen, weil es eben keine Schlange sondern ein Fisch sei.

Marlies bekam von irgend jemand eine wunderschöne Puppe geschenkt. Die hatte einen Porzellankopf, Augen mit Wimpern, die sie zumachen konnte und echte braune lange Haare. Dazu gab es Kleider. Meine Schwester spielte gerne mit dieser Puppe, kleidete sie an und aus und um und liebte sie sehr.
Als meine Schwester in der Schule war holte ich mir die Puppe heimlich, setzte mich auf die Haustreppe und machte es wie sie.

Waltraud sah mich mit der Puppe spielen und sie spielte ihrerseits mit bunten Glassteinen die in der Sonne funkelten. Ich vergaß die Puppe und schaute ihr fasziniert zu. „Willst Du einen Stein haben?“ fragte sie mich. Ich nickte mit glänzenden Augen. „Dann mußt Du mir aber ein Kleidchen von deiner Puppe geben“ sagte sie. „Das ist nicht meine Puppe, die gehört Marlies“ wagte ich zu sagen. „Ach was macht das schon“, meinte sie, „bei den vielen Kleidern fällt das doch nicht weiter auf, wenn Du eins abgibst.“ Ich war überredet und tauschte einen Glasstein gegen ein Puppenkleid.
Waltraud war clever, eine halbe oder dreiviertel Stunde später hatte sie Puppe und Kleider und ich eine Hand voll Glassteine. Da habe ich von Mutter Prügel bekommen und von Marlies auch noch...!
Meine Mutter hat dann noch versucht, bei der Mutter von Waltraud dieses Kindergeschäft rückgängig zu machen - nichts zu machen. Die Puppe war weg.
Diese Geschichte hat mir meine Schwester nie verziehen.

Unsere Vermieterin war ein Nazi. Meine Mutter und meine Tante hörten nachts trotzdem heimlich den verbotenen englischen Sender, weil sie die Wahrheit erfahren wollten und nicht die Propaganda der deutschen nationalsozialistischen Regierung. Das Erkennungssignal dieses englischen Senders, das bumbum bum bum..., habe ich heute noch im Ohr, und auch die Angst habe ich gespürt. Meine Mutter und meine Tante mussten sehr vorsichtig sein. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie fast in den Radioapparat hineinkrochen, um etwas zu verstehen. Unsere Vermieterin hatte mehrfach mit einer Anzeige bei den Behörden gedroht.

Die große Wohnküche wurde mit einem einfachen Ofen beheizt - wenn man Holz oder Kohlen hatte. Kohlen und Brikett gab es aber so gut wie nicht. Große lang brennende Holzscheite waren schwer zu bekommen und teuer. Also blieb uns nur das Sammeln von Reisig. Mutter, Tante Ria und wir Kinder zogen im Sommer und Herbst fast jeden Tag los, um das kostbare Brennmaterial zu sammeln. Wir gingen in den Wald, ins Unterholz, an den Straßenrand - kurz überall dorthin, wo vielleicht Reisig liegen könnte. Es war der Sommer ‘44 und die ersten Tiefflieger kamen. Ich kann mich nicht erinnern wie oft es geschah, aber dass wir oft im Unterholz oder in Schonungen Deckung suchten, wenn sie kamen, weiß ich noch sehr genau. Wir größeren Kinder waren darauf gedrillt sofort in den Straßengraben zu springen. Mutter und Tante schoben den Kinderwagen mit meinem Bruder und meiner Cousine ruckzuck ins Gebüsch und legten sich dann selber flach auf den Boden. Als der Winter kam, lag neben dem Haus, in dem wir wohnten ein riesiger Reisighaufen.

Eines Tages entdeckte unsere Mutter auf unseren Köpfen kleine Lebewesen. Wir hatten Läuse. Natürlich hatten wir sie uns nach der Überzeugung unserer Mutter bei den Kindern aus dem Viertel geholt, wo wir eigentlich nicht spielen durften. Meine Schwester schleppte mich jedoch immer wieder mit dorthin, weil die Kinder aus dem Viertel viel interessantere Spiele kannten und überhaupt gab es dort viel mehr Kinder als in unserer Straße.
Die Läuse wurden also bekämpft; unsere Zöpfe wurden abgeschnitten, unsere Köpfe mit stinkendem Petroleum eingerieben und dann wurde uns aus zerrissenen Bettlaken ein Turban um den Kopf gewickelt. Der mußte 24 Stunden auf dem Kopf bleiben, damit nur ja alle Läuse kaputtgingen. Da das aber kein Allheilmittel war, wurde unser Haar jetzt jeden Tag mit Essigwasser gewaschen und dann mit dem Läusekamm nach Nissen durchsucht. Das war zu der Zeit die Lieblingsbeschäftigung meiner Tante Ria. Eine gefundene Nisse wurde mit den Fingernägeln sofort zerquetscht. Sie ging dabei durchaus nicht zimperlich mit uns um, es war eine sehr quälende Prozedur. Nach einiger Zeit waren wir dann die Läuse los und Marlies und ich gingen danach auch wirklich nicht mehr zu den Kindern mit den Läusen. Es war uns eine Lehre.
Im Winter ‘45, wir waren also immer noch in Horb, kamen die Tiefflieger immer öfter. Meine Schwester und ich waren mit dem Schlitten auf dem kleinen Hügel rodeln. Es waren viele Kinder dort. Auf einmal rannten alle wie gehetzt nach allen Seiten davon. Meine Schwester nahm mich an die Hand, den Schlitten an die Leine und los ging es die Gasse hinunter nach Hause. Die Tiefflieger ballerten los, links und rechts in die Häuser - vor uns und hinter uns auf der Straße schlugen die Kugeln ein. Wir schafften es nicht bis nach Hause. Wir rannten eine Treppe hinauf vor einen fremden Hauseingang und trommelten mit den Fäusten gegen die Tür. Die wurde aufgerissen, wir reingezogen, wir waren in Sicherheit. Man brachte uns in den Keller, wo schon einige Leute waren. Die fremden Leute gaben uns einen Blaubeerpfann-kuchen und Milch. Als der Angriff vorüber war, brachten sie uns nach Hause. Meine Mutter war inzwischen vor Sorge um uns fast verrückt geworden.

Im Frühjahr 1945 marschierten dann die Franzosen ein. Wir saßen im Keller des Hauses am Hang und schauten auf die ferne Landstraße, wo Panzer an Panzer herangerollt kamen. Frau Rimmele heulte laut und Waltraud auch. Meine Mutter und meine Tante waren ganz still, ich glaube, sie beteten.

Die französischen Besatzer ließen uns weitgehend in Ruhe. Allerdings gab es ein Ereignis, das ich auch nicht vergesse. Im Ort gab es einen Schuhmacher, der ein Nazi war. Bei Nacht und Nebel war er plötzlich verschwunden. Die Kunde ging durch die ganze Stadt und alle Leute, die den Mut dazu hatten, gingen heimlich zu seinem Laden, um sich mit neuen Schuhen zu versorgen. Meine Tante und meine Mutter waren auch dort. In solchen Dingen war meine Tante die Mutigere - meine Mutter musste wohl oder übel mit, obwohl sie eher ein Hasenherz war. Plündern war streng verboten, und wer dabei erwischt wurde, riskierte Gefängnis oder noch mehr. Der Laden war jedenfalls schnell leer geräumt und die Besatzer machten Razzia. Sie kamen in jedes Haus und schauten in jede Ecke und unter jedes Bett. Ich habe keine Ahnung, wo meine Tante und meine Mutter die Schuhe versteckt hatten - jedenfalls wurde bei uns nichts gefunden. Das war gut so, denn wir Kinder hatten naturgemäß wachsende Füße, trugen aus Not nur die sogenannten Klepperchen, auch im Winter. Das waren Sandalen aus Holz, sie hatten, wenn sie gut gemacht waren, in Höhe der Zehengelenke ein einfaches bewegliches Teil, so dass der Fuß beim Gehen sogar etwas abrollen konnte. Jetzt hatten wir also Schuhe. Für meinen Bruder gab es in der passenden Größe leider keine Schuhe. Die kleinsten Schuhe waren Mädchenschuhe, sie wurden ihm mit Bindfäden am Fuß festgebunden, damit sie ihm nicht abfielen. Als die Schuhe endlich passten hatte er begriffen, dass es Mädchenschuhe waren, und er heulte jedesmal laut, weil er sie immer noch tragen mußte, aber es gab nichts anderes.

Dann war ein Verpflegungswaggon der Wehrmacht in der Nähe von Horb auf den Gleisen einfach stehen gelassen worden. Nachts zogen die Leute los, um sich mit Mehl, Zucker und diversen Konserven zu versorgen. Meine Tante und meine Mutter gingen natürlich auch in der Dunkelheit los, mit dem Kinderwagen als Transportmittel, um unsere kargen Lebensmittel aufzubessern. Meine Mutter war nicht nur ein Hasenfuß, sondern auch ein Pechvogel, sie wurde von einer Streife erwischt. Die anderen Leute hatten sich längst versteckt, als sie sich noch mit den Säcken abmühte. Der französische Soldat sprach sie mit gezogenem Gewehr an und forderte sie barsch auf, den Zuckersack wieder zurückzustellen. Und plötzlich bekam meine Mutter Wut und einen lebensgefährlichen Mut. Sie schrie den Soldaten an, daß sie vier Kinder zu füttern hätte, die nachts vor Hunger weinten und sie brauche nicht nur das Mehl, sondern auch den Zucker um für die Kinder Pfannkuchen zu backen, und wenn sie den Zucker hergeben müsste, könnte er auch das Mehl behalten. Der Mutterinstinkt war also stärker als die Angst. Verblüffenderweise knurrte der Soldat noch etwas und bedeutete ihr dann, rasch und möglichst unauffällig mit ihren Säcken zu verschwinden. Uff! Erst hinterher wurde meiner Mutter klar, in welcher Gefahr sie geschwebt hatte. Es wurde nämlich erzählt, dass Einheimische beim Plündern erschossen worden waren.

Die Besatzungsoldaten hatten schnell herausgefunden, dass meine Tante eine blonde Schönheit war und sie waren scharf auf sie. Besonders die Marokkaner hatten es auf sie abgesehen. Jeden Tag lungerten sie um unser Haus herum in der Hoffnung, die Tante ansprechen und einladen zu können. Sie hatte aber eine Heidenangst davor. Also verbarg sie ihre Figur unter weiten dunklen Kleidern und ihr blondes Haar unter einem schwarzen Kopftuch. Mit Asche malte sie sich Runzeln ins Gesicht und lief, wenn sie unbedingt das Haus verlassen mußte, in gekrümmter Haltung wie eine alte Frau herum. Meine Mutter hatte dunkle Haare und ständig ein Kind auf dem Arm - sie war dadurch weniger gefährdet. So klein wir Kinder auch waren, irgendwie verstanden wir doch, was da vorging. Manchmal sprachen uns die Marokkaner auf der Straße an und fragten nach „schönes blondes Frau“, aber wir rannten immer schnell weg. Auf der Hangseite des Hauses war ein Steingarten angelegt. Eines Tages schlich ein dunkelhäutiger Offizier auf der Rückseite des Hauses herum und drapierte eine goldene Kette als Lockmittel auf einen Stein. Aber das half ihm auch nichts. Meine Tante blieb unsichtbar für ihn und seine Kollegen.

Nach einer gewissen Zeit kehrte Ruhe ein. Die Besatzer sorgten für Ordnung und das Herumlungern der Marokkaner hörte endlich auf. Meine Tante, mutig und lebenslustig wie sie war, suchte ihr Heil in der Flucht nach vorne. Sie ging in das inzwischen eingerichtete Kasino der französischen Besatzer und freundete sich mit einem Offizier an. Dass sie verheiratet war, war ihr egal, sie erhoffte sich Vergünstigungen durch diese Beziehung. Und siehe da, wir bekamen eine neue Wohnung mit Wasserklosett, zwei Schlafzimmern und noch anderen Annehmlichkeiten. Meine Tante brachte Lebensmittel mit nach Hause und es ging uns langsam besser.

Meine Mutter war allerdings nicht grundsätzlich erbaut von diesem neuen Lebenswandel Tante Rias. Eines Tages, Tante Ria machte sich gerade mal wieder schön um auszugehen, bekamen die Zwei einen fürchterlichen Krach. Meine Mutter warf meiner Tante vor, nur ihrem Vergnügen nachzugehen und ihr die Sorge und Arbeit mit den vier Kindern allein zu überlassen. Und plötzlich flog eine Glasvase durch den Flur in Richtung meiner ausgehfertigen Tante. Eigentlich war es nur ein Einmachglas, dass mit Feldblumen geschmückt als Vase umfunktioniert war. Meine Tante bekam die „Vase“ an den Kopf und blutete entsetzlich. Meine Mutter bekam große Angst um meine Tante und vor sich selbst - wegen ihres Wutausbruches. Der Streit war vergessen, die Frauen stillten gemeinsam das Blut, die Tante wurde verpflastert. Und weil sie doch noch ausgehen wollte, band sie sich ein hübsches Tuch als Turban um den verletzten Kopf und los ging’s.
Meine Mutter hat nie mehr gemeckert. Schließlich ging es uns ja auch viel besser wenn die schöne Tante mit den Besatzern gut Freund war.

Im Sommer 1945 konnten wir langsam an die Heimfahrt ins Ruhrgebiet denken. Meine Oma kam mit dem Zug nach Horb, um schon mal eins von uns Kindern mit nach Hause zu nehmen, damit für die beiden jungen Frauen die Heimfahrt mit vier Kindern nicht zu stressig wurde. Die Wahl fiel auf mich - logisch. Ich war noch zu klein um zu helfen aber andererseits groß genug, der Oma die Rückreise mit Kind zuzumuten. Mit dem Zug zu reisen war damals ein Abenteuer, gegen das die Weltreise des Phileas Fogg nach Jules Verne ein Spaziergang war. Personenzüge gab es viel zu wenige - und wenn es einen gab, war er hoffnungslos überfüllt. Die Meldungen, dass Reisende von den überfüllten fahrenden Zügen gefallen waren häuften sich. Die Leute hingen nicht nur wie Trauben an den Türen sondern saßen auch auf den Kupplungen zwischen den Waggons. Häufiges Reisemittel waren Güterzüge. Während der Fahrt auf eine der wenigen Toiletten zu gelangen, war aussichtslos. So wurden Kinder beispielsweise aus den Fenstern heraus abgehalten. Auch diese Bilder habe ich noch im Kopf.

An die Rückreise mit meiner Oma kann ich mich noch erinnern. Wir reisten mit Gepäck und einem Oberbett. In den Güterzügen hatte ich ein bequemes Lager, in den Personenzügen war es schwieriger. Das Gepäck durfte man nicht aus den Augen lassen, denn die Leute konnten damals alles gebrauchen. Ich weiß noch, dass wir ein Teilstück auch auf einer Waggonachse verbrachten. Meine Oma hatte das Oberbett und mich darauf festgebunden. Während dieser Reisenacht war wieder ein Mensch vom Zug gefallen und getötet worden. Meine Oma hatte es gesehen. So war das damals.

Irgendwann kamen wir in Mülheim-Ruhr an. Wie wir vom ca. 4 km entfernten Bahnhof nach Hause gekommen sind, weiß ich nicht. Vermutlich sind wir gelaufen. Vielleicht hat der Opa uns mit der Handkarre abgeholt, damit die Oma nicht das ganze Gepäck schleppen musste. Aber woher wusste er dann, wann wir ankommen würden? Das sind Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Heute würde ich meine Großeltern gerne danach fragen - aber nun ist es zu spät.

Als besondere Überraschung eröffnete mir die Oma, dass - extra für mich - noch ein paar Stachelbeeren im Garten an den Sträuchern hängen geblieben waren. Ich durfte also in den Garten und nach Stachelbeeren suchen. Ich konnte zwar damals noch nicht zählen, aber ich glaube, daß es nicht mehr als 7 oder 8 waren. Meine Stimmung schwankte zwischen Genuß und Enttäuschung.

Hier macht meine Erinnerung einen großen Sprung. Der Krieg war zu Ende und Mutter und Tante Ria mit den Kindern waren auch wieder zurück und Mutter wohnte mit uns wieder in unserer Wohnung. Es gab wenig zu essen und Mutter war ständig auf der Jagd nach Essbarem für uns. Unser Opa ging hamstern. Leider war er nicht sehr erfolgreich, außer ein paar Möhren, einer Seite Speck und ein paar Kartoffeln hatte er nichts im Rucksack. Dann versuchte es meine Tante, aber viel erfolgreicher war sie auch nicht. Wenn man nichts zum Tauschen hatte, war es eine Betteltour, und zum Tauschen gab es bei uns und den Großeltern nicht viel. In der Zeit hat meine Mutter ihre goldene Uhr getauscht, fast alle Kleidungsstücke meines Vaters und später auch noch alle nicht unbedingt nötigen Wäschestücke des Haushaltes. Mein Vater war in Gefangenschaft, und wann er wieder zurück kommen würde, stand in den Sternen. Ab und zu kam ein Brief. Meine Mutter hat dann ein wenig geweint - und dann ging die Sorge ums Überleben weiter. Wir hatten einen Garten, die Großeltern hatten einen Garten und noch einen Schrebergarten. Es wurde jedes Fleckchen bearbeitet, Kartoffeln, Möhren und roter und weißer Kappes gezogen. Es wurden Kaninchen gezüchtet und Hühner angeschafft. Trotzdem reichte es nicht, denn es waren viele Mäuler zu stopfen. Und manchmal fehlte einfach der Samen, um etwas im Garten auszusähen. Besonders im Winter und Frühjahr wurde die Not sehr groß. Die Eltern meines Vaters hielten sich mit ihrer Hilfe sehr zurück - sie hatten selbst nicht viel und auch viele Mäuler zu stopfen.

Wir Kinder konnten damals noch gut auf der Straße spielen. Es fuhr kaum ein Auto. Also spielte man Nachlaufen oder Verstecken oder auch mit dem Ball - wenn einer da war. Wenn wir vom Spielen zwischendurch Hunger bekamen, gab es eine Scheibe Steckrübe zum Rohessen. Brot war knapp.

1946 wurde ich dann eingeschult. Die Schule war etwa 15 Gehminuten von unserem Haus entfernt und in der Klasse waren schätzungsweise 50 Kinder. Es war eine Gemeinschafts-schule.
Nach etwa vier Wochen wurden wir - die katholischen Kinder - umgeschult in die wieder eröffnete katholische Volksschule. Der Fußweg dahin betrug etwa 30 Minuten. Die Klasse war etwas kleiner - etwa 40 Kinder. Die neue Lehrerin war Brillenträgerin und rothaarig. Beides war damals ein äußeres Zeichen für ein unangenehmes Wesen. Die Bestätigung dafür bekam ich sehr rasch. Am ersten Tag in der neuen Schule wurde uns bedeutet, wir sollten ein Gefäß für die Schulspeisung mitbringen. Am zweiten Tag saß jedes Kind an seinem Platz und hatte sein Gefäß vor sich stehen. Ich weiß wirklich nicht mehr, was meine Mutter mir mitgegeben hatte. Meine Banknachbarin, ein Kind mit blonden Locken, hatte eine hübsche weiße Blechtasse dabei. Ich saß brav und ordentlich in der Bank mit zusammengelegten Händen, so wie meine Mutter es mir eingetrichtert hatte. Meine Banknachbarin zeigte auf ihre Tasse und flüsterte mir zu: „Kuck mal, das ist für meine Schulsuppe.“ Ich wagte nicht zu sprechen sondern nickte nur zustimmend. Die Lehrerin sah mein Nicken und ich musste nach vorne kommen. Ich musste meine Hände vorstrecken, die Lehrerin holte ein langes Lineal vom Pult und schlug mir zweimal über den Handrücken. Ich fühlte mich zutiefst ungerecht behandelt, die Lehrerin hatte ab sofort bei mir verschissen - und zwar endgültig. Ich verweigerte mich und saß von da an nur noch stumm und unbeteiligt in meiner Bank. Das Ergebnis zeigte sich halbjährlich in meinen Zeugnissen. Sie wurden ständig schlechter. Insbesondere „Aufmerksamkeit und Fleiß in der Schule“ wurde von dieser Lehrerin jeweils mit „mangelhaft“ bewertet. Diese Lehrerin - Frl. Tilgen - hatte ich vier Jahre.

1947 wurde meine Mutter sehr krank. Sie mußte ins Krankenhaus und ihr wurde eine Niere entfernt. Wir waren bei unserer Oma. Tante Ria lebte mit meiner Cousine Gisela auch noch dort. Meine unverheirateten Onkel Hans und Konrad waren noch in Gefangenschaft. Meine Oma tat alles für uns, aber sie war auch sehr streng. Wenn ich Hausaufgaben machte, putzte sie mir ständig die Tafel aus, weil es in ihren Augen nicht gut genug war. Wenn wir was ausgefressen hatten, wurden wir eingesperrt. Wenn wir Glück hatten, mussten wir nur in den Wandschrank. Die Einlegeböden ließen nach vorne etwas Platz. Ein Kind konnte ganz gut davor stehen. Die Türe wurde zugemacht und so stand man denn da - im Rücken die Einlegeböden und vor der Nase die verschlossene Tür. Wenn man Pech hatte, musste man in den Keller. Das war furchtbar. Der Keller war feucht und dunkel und man war sehr einsam.

Eine andere Form der Bestrafung war das Drohen mit der Nachteule. Damit hatte es eine eigene Bewandtnis. Meine Oma hatte uns eine Geschichte von einer Nachteule erzählt, die die unartigen Kinder nachts holt, in den Wald zu ihrem Nest bringt und dort verhungern lässt. Sie trieb das so weit, dass sie bei Dunkelheit hinausging, vor das Küchenfenster trat und laut: „Huhuhuhuhu“ heulte. Ich verkroch mich dann immer unter dem Küchentisch, damit die Nachteule mich nicht findet.
Diese Geschichte ist mir lange nachgelaufen. Meine spätere Freundin hat sich einmal über mich kaputt gelacht, weil ich beim Durchqueren eines Wäldchens das Gurren der Tauben für das Rufen der Nachteule gehalten hatte. Ich glaub, ich war damals schon 11 oder 12 Jahre alt.

Mutter war also im Krankenhaus, und ab und zu wurde eins von uns Kindern zu Besuch dorthin mitgenommen. Man musste natürlich laufen - vier km hin und vier km zurück. Für Erwachsene lästig genug, für Kinder schlimm. Einmal hat uns eine große Cousine mitgenommen. Auf dem Heimweg gerieten wir in ein eisiges Schneegestöber. Der Eisregen kam von vorne und meine liebe Cousine drückte meinen Kopf in ihren Muff - ich bekam zwar weniger Eisregen ins Gesicht, musste aber dauernd rückwärts laufen. Es war weder für sie noch für mich ein Vergnügen.

Es war der kalte Winter 47/48. Meine Schwester und ich hatten kaum etwas anzuziehen, geschweige denn warme Sachen. Man trug damals ein Leibchen mit Knöpfen an der Seite. Ein Strumpfband hielt die Strümpfe an Ort und Stelle fest. Zwischen Schlüpfer und Strumpf klaffte ein 10 bis 20 cm langer unbekleideter Spalt, je nachdem, wie lang die Strümpfe waren.
Meine Tante hatte eine Idee, sie schneiderte uns aus alten Militärdecken lange Hosen. Sie hatte zwar keine Ahnung, wie das ging, denn sie war gelernte Verkäuferin und keine Schneiderin, aber die Dinger waren lang und warm. Das Aussehen spielte da weniger eine Rolle, auch nicht, dass sie entsetzlich kratzten.

Dann kam der erste Onkel aus der Gefangenschaft zurück und bei der Oma wurde es eng. Tante Rita wollte uns jetzt in unserer Wohnung - wo wir eigentlich hingehörten - alleine versorgen. Wir Kinder fanden das toll, sie war wie eine große Schwester und kein bißchen streng. Sie drehte uns Papilotten in die Haare und ernährte uns mit geschlagener Büchsenmilch und Marmelade, davon schien sie einen unerschöpflichen Vorrat zu haben. Wahrscheinlich hatte sie wieder irgendwelche Beziehungen zu Besatzern geknüpft. Im Ruhrgebiet waren es die Engländer, die offensichtlich nicht so freigiebig waren wie die Franzosen in Horb. Geheizt wurde auch kaum. Es gab - so unwahrscheinlich es klingt - auch im Ruhrgebiet keine Kohlen, und Holz war noch knapper. Wir waren also durch die einseitige Ernährung und ständige Kälte so heruntergekommen, dass meine Oma eines Tages kam, uns alle zusammenpackte und wieder mit zu sich nach Hause nahm.

Irgendwann war dann meine Mutter wieder bei uns. Es gab noch weniger zu essen. Ich höre heute noch meinen kleinen Bruder weinen: „Mama Bubu.“ (Butterbrot). Es gab zwar Lebensmittelmarken, aber oft genug war das, was man für die Marken hätte bekommen sollen, überhaupt nicht aufzutreiben.
Ein entfernter Cousin meines Vaters war Leiter vom örtlichen Konsum. Manchmal - ziemlich selten - ließ er uns etwas zukommen. Einmal war es gefrorene Butter, die auch in unserer kalten Wohnung nicht auftaute. Meine Mutter machte Knödel aus Kartoffeln und darüber goß sie die geschmolzene Butter. Das war ein Festessen.

Zu Weihnachten gab es für arme Leute auch nichts zu kaufen. Meine Mutter bekam vor der Währungsreform 148,00 Reichsmark im Monat für uns alle. Davon mußte sie 30 RM Miete, und außerdem Strom und Brennmaterial bezahlen - und essen wollten wir auch noch. Also waren wir auf milde Gaben von Verwandten und Bekannten angewiesen. Unsere Weihnachtsgeschenke bestanden aus abgelegten Kleidern, selbstgemachten Puppen u.ä. Mein Opa war von Beruf Bäcker. Es war ein Segen, wenn es genügend Mehl, Zucker und Eier gab, womit er Brot, Stuten und Plätzchen backen konnte. Aber oft scheiterte es an der Hefe. Die Bäcker gaben sie nicht gerne her. Wahrscheinlich hatten sie selbst nicht genug.

Ich wurde krank, ich verlor Blut auf der Toilette und meine Mutter rief den Arzt. Der stellte „Hungertyphus“ fest und gab irgendwelche Medikamente und meiner Mutter vor allen Dingen Verhaltensregeln mit auf den Weg. Milch und Brei, sonst meinem Bruder vorbehalten, waren nun auch für mich da. Dabei musste ich sehr vorsichtig essen, um den Körper wieder langsam an richtige Nahrung zu gewöhnen. Z.B. durfte ich eine Zeitlang kein Brot essen. Ich saß mit hungrigen Augen am Tisch und sah verständnislos zu, wie meine Geschwister ein Butterbrot bekamen und ich nicht. Als ich wieder genesen war, schenkte mir eine Nachbarin eine Tüte Zwieback.
„Du hast immer schon mehr gebraucht als deine Geschwister“, erzählte meine Mutter später, weil ich nie begreifen konnte, warum ich als einzige in der Familie eine Hungerkrankheit bekommen hatte. Schon als Baby mußte sie mich mit Nährzucker päppeln, weil ich Rachitis bekam - auch wieder als einzige. Dabei war ich bei der Geburt über acht Pfund schwer.

In unserer Siedlung gab es einen kleinen Bauern. Der hatte einen Rübenacker und einen Kartoffelacker. Wenn er die Kartoffeln geerntet hatte, durfte die Bevölkerung den Acker noch mal nach Kartoffeln durchwühlen. Marlies und ich kamen dann mit einem kleinen Säckchen Kartoffeln nach Hause. Viel mehr als eine Mahlzeit war es nicht, aber es war wieder für einen Tag zu essen. Auf anderen Feldern sammelten wir nach der Ernte zurückgebliebene Ähren, im kleinen Wäldchen suchten wir nach Bucheckern.
Einmal konnte meine Mutter günstig einen Sack Zuckerrüben bekommen. Davon wurde dann tagelang Rübenkraut auf dem Herd gekocht. So hatten wir wenigstens etwas auf dem Brot, das zu dieser Zeit häufig aus Mais gebacken wurde. Mehr gab es nicht zusätzlich, Felder und Wälder waren in unserer Gegend eher selten.

Aus Not vermietete meine Mutter unseren Wohnraum - Wohnzimmer konnte man kaum sagen, da keine Polstergarnitur vorhanden war - an eine alleinstehende Frau mittleren Alters. Sie hatte einen Freund bei den Engländern, zahlte Miete und brachte uns Kindern manchmal Schokolade oder andere Kleinigkeiten mit. Unser Pfarrer hatte Kontakte in die Schweiz und besorgte für seine armen Gemeindemitglieder vor allen Dingen gebrauchte Kinderkleidung. Ich bekam auch ein Kleid. Es war rot und hatte nach Matrosenart einen großen eckigen Kragen. Der Rand des Kragens, die Ränder der seitlichen Taschen und der Saum waren mit drei Reihen weißer Litze besetzt. Es war ein schönes Kleid und stand mir sehr gut. In der Schule hänselten mich die Kinder wegen des ausladenden Kragens - also steckte ich ihn auf dem Schulweg nach innen und kam dann jeweils kragenlos zur Schule. Auf dem Nachhauseweg machte ich es umgekehrt. Überhaupt wurde ich in der Schule oft wegen meines ärmlichen Aussehens gehänselt. Meine Mutter konnte nicht nähen wie andere Mütter. Sie schaffte es gerade mal, an ein zu kurzes Kleid ein Stück von einem anderen Stoff anzusetzen, damit es wieder eine keusche Länge bekam. Die zu engen Ärmel wurden entweder ganz entfernt oder - noch besser - unter den Armen ein Stück aufgetrennt, damit es nicht mehr so spannte und dadurch einriss.
Unterwäsche und Strümpfe wurden aus weißem Garn von ehemaligen Zuckersäcken gestrickt.
Unterhosen mit Bein und Zwickel sowie Unterhemden mit angenähten Trägern konnte meine Mutter noch so eben schaffen. Bei den Strümpfen haperte es an der Ferse und der Spitze. Dann sprang meine Oma ein, die die kniffligen Stellen beherrschte.

Es kam die Währungsreform und plötzlich waren die Läden voller Lebensmittel. Meine Mutter hatte zwar immer noch wenig Geld, aber wenn sie es richtig einteilte, bekamen wir immer satt zu essen. Bei Kleidung und anderen Dingen waren wir immer noch auf die geschenkten Sachen aus Barmherzigkeit angewiesen.
Da meine Mutter während der Hungerzeit alles vermaggelt hatte, was nicht lebensnotwendig war, gab es beispielsweise für jedes Bett nur noch eine Wäschegarnitur. Das bedeutete, dass wir am Tag der großen Wäsche schon sehr früh um 6 Uhr aus den Betten mussten, weil sie abgezogen wurden. Wenn wir Glück hatten, waren die Teile am Abend wieder trocken, so dass wir wieder in frischen Betten schlafen konnten. Manchmal musste meine Mutter aber auch die Teile trocken bügeln. Wenn es gar nicht ging, schliefen wir eben eine Nacht im roten Inlett. Nachthemden hatten wir sowieso keine. Ausgediente Kleider taten den gleichen Dienst.

Die große Wäsche war ein Thema für sich. Wir wohnten in einem Zweifamilienhaus und hatten für die damalige Zeit eine komfortable Waschküche. In der Ecke stand ein Waschbottich zum aufheizen. Schon am Abend vorher wurde die Kochwäsche dort eingeweicht. Um fünf Uhr früh begann dann der Waschtag. Die vorgeweichte Wäsche wurde umgefüllt in die Waschmaschine und einmal vorgewaschen. Die Waschmaschine (einstmals mit Elektromotor, der aber kaputt war) hatte einen Wassermotor der dafür sorgte, dass die Flügel in der Maschine die Wäsche hin- und herbewegten. Dann wurde die Wäsche ausgewrungen. Die Wringmaschine hatte zwei Walzen. Die Wäsche wurde zwischen den Walzen hindurchgedreht und landete anschließend wieder in einer frischen Lauge im Waschkochkessel. Jetzt mußte die Wäsche zum Kochen gebracht werden, was je nach Brennmaterial ungefähr zwei bis drei Stunden dauerte. Danach wiederholte sich der Vorgang mit Waschmaschine und Wringmaschine. Nach der Kochwäsche wurde in der vorhandenen Lauge die Buntwäsche in der Maschine gewaschen. Jetzt kam die Wäsche in ein großes Spülbassin, das über einen Abfluß wie eine Badewanne verfügte. Damit die Wäsche gut gespült war, wurde das Wasser im Bassin zwei bis dreimal erneuert. Dann wurde wieder gewrungen und schließlich die Wäsche im Garten auf die Leinen gehängt. Im Winter oder bei Regen kam sie auf den Speicher. Am Ende eines solchen Tages war meine Mutter fix und fertig und bis zum Hals nass. Merkwürdigerweise wurde sie nie rheumatisch.
Meine Oma hatte übrigens eine Waschmaschine, bei der die Waschflügel über ein Drehgestell auf dem Deckel mechanisch bewegt wurden. Da musste dann jeder helfen der groß genug war, die Flügel über der Waschmaschine hin- und herzuschwenken.

Wie gesagt, ich wurde oft in der Schule und auf der Straße von anderen Kindern gehänselt.
Nicht nur wegen der Kleidung, sondern auch, weil ich nicht so sportlich war und obendrein etwas ungeschickt; oder weil ich so leicht weinte oder weil ich einfach ein Pechvogel war. Einmal kam ich zum Schulunterricht und sah auf dem Schulhof die Kinder versammelt in einer Gruppe stehen. Neugierig näherte ich mich den Kindern und sah, dass ein Kübel mit Schulspeisung umgefallen war. Die gute Griessuppe mit Rosinen ergoss sich über den Boden. Ich konnte mein Entsetzen und meine Trauer über das verlorene Essen nicht mehr in Worte fassen, denn plötzlich stoben die Kinder nach allen Seiten davon. Ich schaute mich verwundert um, da war schon der Schulrektor hinter mir. Packte mich am Kragen, haute mir rechts und links um die Backen und schrie mich an: „Dir werde ich helfen, die teure Suppe zu verschütten!“ Mein Gestottere: „Das war ich doch gar nicht,“ ließ ihn kalt. Er schleppte mich zu meiner Klassenlehrerin - die mit den roten Haaren - und forderte sie auf, mir eine deftige Strafarbeit zu verpassen. Die bekam ich dann auch. Ein anderes Mal, meine Schwester Marlies war die Anführerin, rannte ich mit einer Gruppe Kinder durch die Siedlung. Mir war nicht klar, warum alle rannten, ich lief einfach mit. Natürlich war ich immer die letzte.
Als mir der Sinn der Rennerei klar wurde, war es zu spät. Sie spielten „Klingelmännchen“ und die Prügel bekam ich mal wieder, weil ich nicht schnell genug war.

Ein wichtiges Erlebnis hatte ich auf dem Nachhauseweg von der Schule. Es war Herbst ‘48 und wir gingen immer den 2 km langen Schulweg zu dritt, viert oder fünft. Alle hatten einen Schulranzen. Ich mußte mich mit einer alten Tasche von meinem Opa abschleppen. Die Kinder umringten mich, riefen mir gemeine Dinge zu, schnitten mir Fratzen und lachten mich aus. Diesmal heulte ich nicht. Ich bekam die Wut und haute mit meiner schweren Schultasche um mich was das Zeug hielt. Die Kinder stoben auseinander und blieben ab da in respektvoller Entfernung für den Rest des Weges. Von nun an hatte ich Ruhe.

Im Winter ‘48 wurde ich auf die Erste Heilige Kommunion vorbereitet. Unsere Pfarre war etwa 2 km weit entfernt und ich mußte außer vormittags zur Schule dann noch nachmittags zum Kommunionsunterricht. Da wir immer noch wenig Geld hatten gehörte ich zu den Kindern, die von der Kirche für den Kommunionstag eingekleidet wurden. Zur Kirche gehörte ein kleines Nonnenkloster und die Klosterschwestern nähten die Kommunionkleider. In Ermangelung passender Stoffe wurden alte Altardecken oder zerschlissene Altargewänder dafür verwendet.
Mein Kleid war aus besticktem Tüll, und weil es durchsichtig war, bekam ich noch ein Unterkleid aus weißem Stickereistoff. Ich fand die Sachen bildschön. Erst als ich am Tag der Kommunion aus der Kirche kam und die Leute so komisch auf mein Kleid guckten, wurde ich unsicher und schämte mich ein wenig.

Während der Vorbereitungszeit sagte mir meine Mutter immer wieder, dass ich den lieben Gott darum bitten müsste, dass er meinen Vater rechtzeitig vor meinem großen Tag nach Hause schickt. Also betete ich jeden Abend: „Lieber Gott mach, dass der Papa zu meiner Heiligen Kommunion wieder zu Hause ist.“ Auch mein Bruder betete jeden Abend dafür.
Karsamstag, also eine Woche vor dem großen Tag, hatte ich dann mein erstes Glaubens-erlebnis. Meine Mutter legte letzte Hand an den Frühjahrsputz. Die Möbel wurden poliert, frische Decken aufgelegt, Blumen in die Vase gestellt usw. Meine Schwester und ich sollten im Garten etwas für Ordnung und Sauberkeit sorgen. Wir jäteten im Steingarten Unkraut. Als ich zur Mülltonne ging, um wieder mal Unkraut zu beseitigen, lehnte ein fremder Mann über unserem Gartentörchen. Er sprach mich an: „Guten Tag, wie heißt du denn?“ Ich schaute ihn unsicher an, sagte: „Ursula“ und fing an zu weinen. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Gerade dachte ich: „Der hat Ähnlichkeit mit dem Bild über dem Sofa in der Küche,“ als auch schon meine große Schwester angerannt kam und rief: „Papa, Papa!“ Sie fiel ihm um den Hals. Ich sprang hinterher und hielt ihn dann auch ganz fest. Dann legte er den Finger auf den Mund und sagte: „Sagt noch nichts der Mutti, ich will sie überraschen.“ Er ging zur Haustür, die aufstand. Meine Mutter kam gerade mit einem Staubtuch heraus - sie blieb vor Überraschung stehen - wie eine Statue - und dann umarmten sie sich. Mir kommen heute noch die Tränen, wenn ich daran denke.
Die Nachricht von der Heimkehr meines Vaters ging wie ein Lauffeuer durch unsere Siedlung, wo jeder jeden kannte. Meine beiden Großmütter fuhren spontan in die Stadt. Die eine - seine Mutter - brachte einen Sommerhut mit aus gelbem Stroh, die andere - unsere Oma, brachte Unterwäsche. Und da mein Vater etwas Geld mitbrachte - die obligatorischen 40 DM - die jedem Bürger nach der Währungsreform zustanden, lief meine Mutter noch schnell, um etwas für das Osterfest einzukaufen. Am Abend betete dann mein kleiner Bruder wie gewohnt: „Lieber Gott, schick den Papa wieder nach Hause.“ Wir lachten laut und herzlich darüber und Hans-Willi verstand die Welt nicht mehr. Vielleicht hatte er sich seinen Vater anders vorgestellt?

Was ich auch nie vergesse ist das Bild in meinem Kopf, als mein Vater am Ostersonntag plötzlich die Arme auf den Küchentisch legte und weinte. Wir waren beunruhigt und fragten Mutti was er denn nur hat. Sie sagte: „Er denkt an seine Kollegen, die immer noch in der Gefangenschaft sind.“
Dabei war mein Vater eigentlich ein harter Mann. Er lehrte uns Ordnung und Disziplin. Wir mussten ab sofort unsere Schuhe selbst putzen. Als er meine miserablen Zeugnisse sah, kümmerte er sich um meine Hausaufgaben. Jeder Flüchtigkeitsfehler löste harsche Kritik aus. Auch wenn es nur der fehlende Punkt auf dem i oder der Strich durch das kleine t waren. Manchmal musste ich dann vor Nervosität und Angst kichern und jedesmal fing ich mir dann einen kleinen Schlag in den Nacken ein.
Einmal habe ich meine Mutter gefragt, warum er ausgerechnet mit mir so streng ist. Sie sagte: „Er hat dich immer für ein intelligentes Kind gehalten und nun ist er sehr enttäuscht von deinen Leistungen.“
Ob es nun die Strenge meines Vaters war oder der neue Lehrer ab der 5. Klasse, meine Leistungen wurden immer besser und irgendwann ließ Vater mich in Ruhe.

Mein Vater war also wieder zu Hause und musste sich um Arbeit kümmern. Also ging er nach Krupp, das war vor dem Krieg und im Krieg sein letzter Arbeitgeber gewesen, der ihn jetzt auch wieder einstellen musste. In dem Zusammenhang muss ich noch erwähnen, dass mein Vater nicht als Soldat in Gefangenschaft geraten war sondern als Zivilist. Er war von Krupp in ein kriegswichtiges Werk nach Schlesien geschickt worden. Als dann die Russen kamen, wurde er gefangen genommen und später an die Polen übergeben.
Er fing also bei Krupp an zu arbeiten. Da aber Krupp als ehemaliger Waffenproduzent nichts mehr herstellen durfte, war nur Demontage angesagt. Das deprimierte meinen Vater sehr. Er war Feinmechaniker von Beruf und fühlte sich nicht mehr wohl bei Krupp. Außerdem bekam er für 10 Tage Arbeit nur 60 DM. Er suchte eine neue Arbeit und bekam sie bei Siemens als Fräser. Jetzt verdiente er 60 DM in einer Woche. Mein Vater war fleißig; er machte Überstunden was das Zeug hielt und jede Woche brachte er mehr Geld mit nach Hause. So ganz langsam ging es mit uns bergauf. Meine Mutter konnte eine zweite Garnitur Bettwäsche kaufen und andere notwendige Dinge. Kindergeld gab es damals noch nicht.

Weihnachten 1950 bekam ich meine erste Puppe geschenkt. Ich war 10 Jahre alt und hatte bis dahin nie eine richtige eigene Puppe besessen. Es war eine Schildkröt-Puppe mit reliefartig aufgemalten Haaren. Ich nannte sie Christine und war glücklich. Von da an war ich stundenlang damit beschäftigt für Christine aus alten Stoffresten Kleidchen zu nähen. Meine Freundin Irmgard lehrte mich Stricken und ich versuchte mich an einem Strickjäckchen für Christine.

1951 wurde meine kleine Schwester Magdalene geboren. Als mein Vater vom Krankenhaus zurückkam und uns erzählte, dass das neue Baby ein Mädchen ist, fing mein Bruder laut an zu heulen: „Ich will einen Jungen, ich will einen Jungen ...“ und stampfte dabei mit dem Fuß auf. So hatten wir großen Mädchen ihn noch nie erlebt. Er war nur schwer zu beruhigen. Schließlich musste er einsehen, dass man das kleine Mädchen nicht umtauschen konnte.
Meine Mutter bekam eine Thrombose nach der Geburt und mußte vier Wochen im Krankenhaus bleiben. Da meine große Schwester 14 Jahre alt war und ich 11, konnten wir uns mehr oder weniger selbst helfen. Ab und zu sah meine Oma nach dem Rechten und half aus.

Während dieser Zeit kochte mein Vater am Wochenende für uns; einmal brachte er Pferdefleisch mit um Sauerbraten zuzubereiten. Er erwartete wohl, dass wir hocherfreut auf diese Delikatesse reagierten - aber so ganz begeistert waren wir nicht. Wir haben den Sauerbraten natürlich gegessen und er schmeckte auch, jedoch ein komisches Gefühl blieb.

Etwa zur gleichen Zeit wurde meine Tante Elisabeth Mutter. Sie war die Frau von Onkel Hans und beide wohnten bei unserer Oma in zwei extra für sie hergerichteten Räumen. Ich mochte Tante Elisabeth gut leiden, sie besaß einen Angorapullover und ich liebte es, mein Gesicht darin zu vergraben, wenn sie mich in den Arm nahm. Auf der Hochzeit von Onkel Hans und Tante Elisabeth durfte ich die Kerze tragen. Ich war sehr stolz auf dieses wichtige Amt und versah es mit großem Ernst und Hingabe.
Als ich nun zum ersten Mal meinen kleinen Cousin sehen durfte war ich sehr enttäuscht. Er war klein und schrumpelig und mit meiner spontanen Bemerkung: „Unser Baby ist aber viel schöner“, habe ich Tante Elisabeth sehr gekränkt. Es tat mir außerordentlich leid hinterher, aber die Worte konnte ich nicht mehr zurückholen. Mit meiner Spontaneität bin ich noch öfter angeeckt. „Du trägst dein Herz auf der Zunge“, sagte dann meine Mutter, „du musst lernen dich zu bremsen.“ Oder mein Vater sagte: „Diplomatie ist nicht deine Stärke, aber man kann sie lernen.“ Sie hatten ja so recht, ich habe nie aufgehört, daran zu arbeiten.

Manche Leute in der Nachbarschaft zerrissen sich das Maul über unser 4. Kind. „War das denn nötig, ihr hattet doch schon drei“ und Ähnliches musste sich meine Mutter anhören. Dann waren da noch die Wohnverhältnisse. Unsere Wohnung hatte ein ca. 20 qm großes Schlafzimmer, ein ebenso großes Wohnzimmer, eine etwa 10 qm große Küche, ein Wasserklosett und eine kleine Diele.
Meine Eltern schliefen mit der kleinen Schwester im Schlafzimmer, mein Bruder bekam ein Bettsofa in der Küche und meine Schwester und ich teilten uns ein Bett im Wohnzimmer. Eigentlich war es nicht einmal ein Bett. Es war ein Bettrahmen mit Matratze, der auf vier dicke Holzklötze gestellt war. Manchmal krachte das Bett zusammen, wenn wir allzu sehr darin herumtobten. Am Tag wurde unser Bett in eine Liege verwandelt, mit hübscher Decke und Kissen.

1952 wurde für Marlies eine Lehrstelle gesucht. Meine Mutter bestand darauf, dass wir etwas lernen sollten. Sie hatte selbst eine Lehre als Verkäuferin in einem Wäschegeschäft absolviert und hielt es für selbstverständlich, dass wir Mädchen auch etwas lernten. Eigentlich träumte sie ja davon, dass Marlies Friseuse werden sollte und ich später Schneiderin, das wäre praktisch und würde in Zukunft viel Geld sparen helfen. Aber daraus wurde nichts.
Marlies bekam nur eine Lehrstelle in einem Damenmodegeschäft in Mülheim Ruhr. Sie mußte neu eingekleidet werden, weil der Lehrherr auf die äußere Erscheinung seiner Verkäuferinnen und Lehrmädchen großen Wert legte. Die erste Berufsausstattung, zwei Röcke und zwei kurzärmelige Pullis - es ging ja auf den Sommer zu, waren untereinander kombinierbar. Das war wichtig, denn das Personal sollte obendrein auch noch nachmittags anders gekleidet sein als am Vormittag. Diese Anschaffung riss ein großes Loch in die Haushaltskasse. Es musste eine Monatsfahrkarte gekauft werden und Schuhe und Strümpfe fehlten auch. Damals gab es noch keine Strumpfhosen. Man trug einen Hüftgürtel mit Strumpfbändern und Nylons. Wenn die Nylons eine Laufmasche bekamen, wurden die Strümpfe zum Aufnehmen der Maschen in ein Fachgeschäft gebracht.
Als meine Schwester ihr erstes Lehrlingsgeld bekommen sollte, brachte sie statt dessen eine Bluse mit - weil sie sie brauchte. Das zweite Lehrlingsgeld musste ähnlich verwendet werden usw. Während der gesamten Ausbildungszeit brachte meine Schwester keine müde Mark nach Hause, alles ging für aufwendige Klamotten drauf. Der Chef bestand darauf, dass die Verkäuferinnen Kleidung aus dem eigenen Laden trugen - sozusagen als Reklame oder lebende Schaufensterpuppen. Allerdings wurde auch ab und zu eine Bluse für meine Mutter dort gekauft. Es war eben praktisch, dass man die Sachen nicht sofort bezahlen musste sondern durch die Lohnverrechnung abstottern konnte.

Ich ging also noch zur Schule, trug die abgelegten Sachen meiner Schwester, passte auf unsere kleine Schwester auf oder unternahm in der Freizeit etwas mit meiner Freundin. Die wohnte nebenan und hatte nur noch einen großen Bruder. Die Mutter war Weißnäherin und konnte aus ältesten Kleidern hübsche neue Sachen nähen, vom Mantel bis zum Badeanzug, Frau Herkel nähte alles, was gebraucht wurde. So war meine Freundin immer adrett angezogen. Sie hatte blonde Locken und war ein äußerst freundliches, aufgeschlossenes Kind. Ich war ziemlich schüchtern und kam mir gegen sie wie ein Trampel vor. Wir waren zwar gleich groß und gleich dick oder dünn, aber meine Haare waren dunkelbraun ziemlich dünn und nur ganz leicht gewellt, was sich insbesondere bei Regenwetter zeigte.
Irmgard und ich spielten jeden Tag zusammen. Wir waren dicke Freundinnen, was sich hauptsächlich aus der Tatsache ergab, dass wir Haus an Haus wohnten. Sie war die Initiatorin und ich nahm ihre Ideen dankbar an. Spielzeug hatten wir kaum. Einen Ball, eine Puppe, vielleicht noch ein Puppenbett, das war’s. Wir spielten mit dem, was die Natur so hergab. Im Sommer machten wir „Eis“ aus zerstossenen Früchten, bastelten aus einer alten Zigarrendose einen „Eiswagen“ und verkauften uns das „Eis“ gegenseitig. Oder wir sammelten Kastanien und bastelten mit Hilfe von Streichhölzern Figuren und Tiere und spielten damit Märchen oder selbst erfundene Geschichten. Bei schlechtem Wetter spielten wir bei Irmgard zu Hause in der Wohnung. Dort gab es Gesellschaftsspiele wie „Mensch ärgere dich nicht“ , „Halma“ oder „Mühle“. Irmgard brachte mir die Spiele bei; sie konnte das alles sehr gut und ich verlor fast immer. Besonders „Mühle“ hasste ich. Bei diesem Spiel hatte ich keine Chance. Sie war einfach besser. Wahrscheinlich habe ich deshalb bis heute eine Abneigung gegen Spiele aller Art.

Irmgard war überall beliebt und ihre Leistungen in der Schule waren sehr gut. Ich war irgendwie das arme Anhängsel, schüchtern, tollpatschig und vermeintlich auch noch dumm. Irmgard hatte immer die Nase vorn. Wir gingen z.B. im Sommer zum Baldeneysee mit Frau Herkel schwimmen. Irmgard konnte schwimmen, ich natürlich nicht. Im Nichtschwimmer-becken tat ich so als könnte ich es. Ich ließ ein Bein auf dem Boden, breitete meine Arme zu Schwimmbewegungen aus und hüpfte mit dem stehenden Bein nach. Natürlich konnte jeder sehen, dass es reine Angabe war. Irmgard lachte sich krank. Aber ich übte verbissen, mein Ehrgeiz war geweckt. Irgendwann konnte ich zwei Meter schwimmen, dann drei Meter und dann immer am Rand entlang, dass ich mich nur ja schnell festhalten konnte, wenn es nicht mehr ging oder ich Angst bekam. Als sie das erste Mal vom Einmeterbrett ins Wasser sprang, packte mich ein Schauder, und mit zusammengebissenen Zähnen und Todesverachtung sprang ich auch. Natürlich tauchte ich wieder auf und der Bann war gebrochen. Die Badekleidung war so ein Problem. Frau Henkel hatte für Irmgard einen Badeanzug genäht. Er war hellblau und mit Gummifäden rundum gesmokt und dadurch elastisch. Ich hatte zum Baden nur ein weißes Unterhemd und eine schwarze Turnhose an. In der Badeanstalt gab es auch eine Kinderrutsche. Natürlich haben wir die ausprobiert, obwohl wir schon zwölf Jahre alt waren. Das Ergebnis war, dass ich meine Turnhose am Hintern durchscheuerte. Von da an trug ich zum Schwimmen eine gestopfte Turnhose und gerutscht bin ich nicht mehr.

Mit dem Rollschuhlaufen war es ähnlich. Ich besaß keine, sie hatte welche. Manchmal schnallten wir uns jeder einen Rollschuh unter, nahmen uns an die Hand und rollten gemeinsam. Radfahren konnte ich auch nicht. Irmgard hatte ein Fahrrad, das ihr Vater aus alten Teilen zusammengesetzt und schön rot angestrichen hatte. Sie ließ mich lernen. Ich lernte es dann auch mehr schlecht als recht.
Sogar ihre Tage bekam sie vor mir. Sie war ein halbes Jahr älter als ich und stolz wie Oskar, weil sie nun „erwachsen“ war. Sieben Monate später registrierte ich mit Genugtuung meine erste Blutung und hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass ich sie einholen würde.
In der Schule begann ein Wettstreit um die ersten Plätze. Irmgard war im Zeichnen und im Aufsatz nicht zu schlagen, aber im Rechnen war ich ihr über, besonders knifflige Textaufgaben waren mein Hobby. Außerdem konnte ich gut Gedichte aufsagen. Ich hatte sie im Handumdrehen gelernt und konnte sie mit der richtigen Betonung vortragen. Auch im Singen war ich gut. Meine tiefes Timbre war ein tragendes Element der zweiten Stimme. Irmgard hatte einen schönen Sopran und oft haben wir in der Freizeit die Lieder aus der Schule zu unserem eigenen Vergnügen zweistimmig gesungen. Wir beide waren also in der Klasse die Nr. 1, eine Nr. 2 gab es nicht, es ging mit 3 weiter.
In der siebten Klasse bekamen wir eine neue Lehrerin und außerdem wurden wir von den Jungen getrennt. Das neue Fräulein hieß Heckershof. Sie war mindestens 50 Jahre alt und das, was wir unter einer „alten Jungfrau“ verstanden. Schon in den ersten Wochen hatte ich meinen ersten (und einzigen) Zusammenstoß mit ihr. Unsere Hausaufgabe bestand darin, Sätze mit „dass“ oder „das“ zu bilden. Ich musste meine Sätze vorlesen. Die Lehrerin war nicht zufrieden und ließ mich eine Stelle mehrmals wiederholen bis ich es wagte zu fragen: „Warum“. Sie brüllte mich unvermittelt an: „Das kann ich doch nicht wissen, dass du alles falsch hast!“ Ich brüllte, zutiefst gekränkt, zurück: „Ich habe nicht alles falsch, Sie können ja mein Heft angucken!“ „Unverschämtheit, Widerworte gibst du auch noch, zur Strafe bleibst du für den Rest der Stunde stehen,“ brüllte sie mich an. Bockig und uneinsichtig - ich war mir keiner Schuld bewusst - blieb ich stehen. Ich konnte noch nicht einmal heulen, wo ich doch sonst bei jeder Gelegenheit in Tränen ausbrach.
Merkwürdigerweise wurde ich von nun an von ihr respektiert. Sie merkte sehr schnell, dass ich eine gute Schülerin war und verhielt sich fair mir gegenüber. Als sie allerdings zum erstenmal unsere Herbstzeugnisse geschrieben hatte, sprach sie mich vor versammelter Klasse an: „Ursula, ich bin ja entsetzt. Ich habe alle Zeugnishefte durchgesehen, um mir ein Bild von meinen Schülerinnen zu machen. Dabei bin ich natürlich auch auf deine Zeugnisse bis zur 4. Klasse gestoßen. Wie ist es nur möglich, dass du früher dermaßen miserable Noten hattest?“ Ich stand da, fühlte mich bis auf die Knochen blamiert, wurde puterrot und sagte nichts. Was hätte ich auch sagen sollen? Ich hatte damals ja selbst keine Erklärung dafür. Ich dachte nur mit Ingrimm an meine rothaarige Lehrerin der ersten Jahre.

Heute denke ich oft, dass wir bei Frl. Heckershoff sehr viel gelernt haben. Obwohl es nur eine Volksschule bis zur 8. Klasse war, unterrichtete sie uns z.B. in Literatur. Sie machte uns mit Schiller, Goethe, Fontane, Stifter und weiteren Dichtern vertraut, ebenso mit Komponisten.
Z.B. erzählte sie über Beethoven, dass er während der Uraufführung der sogenannten Schicksalssymphonie sein Gehör verlor - und trotzdem das Dirigat bis zum Ende führte. Von Mozart beschrieb sie die Ereignisse um das Requiem und seinen frühen Tod. Sie machte uns mit den vier Temperamenten vertraut: Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker und Phlegmatiker. Um das anschaulich zu machen, nannte sie typische Vertreter dieser Typen aus der Klasse. Meine Freundin war z.B. nach ihrer Ansicht eine Sanguinikerin, ich war für sie die Cholerikerin usw.
Dass sie mich schätzte, erfuhr ich in der 8. Klasse. Irmgard, die bisher immer die gewählte Klassensprecherin war, entsprach nicht mehr den Vorstellungen von Frl. Heckershoff in Bezug auf Durchsetzungskraft. Ich muss dazu erwähnen, dass wir eine ziemlich wilde Meute waren - obwohl nur Mädchen. Das wirkte sich so aus, dass wir schon ungeordnet in den Klassenraum rannten, wenn die Pause vorbei war. War die Lehrerin einmal nicht im Klassenzimmer, ging es hoch her und Irmgard schaffte es nicht, Ordnung in die wilde Bande zu bringen.
Also schaffte Frl. Heckershoff die Wahl kurzerhand ab und bestimmte mich zur neuen Klassensprecherin. Ich war erst sprachlos - dann stolz und durchaus gewillt, mich durchzusetzen. Also machte ich es nicht wie Irmgard, die immer nur drohte aber nichts tat - im Gegenteil, die Namen der schlimmsten Störerinnen, die sie an die Tafel schrieb, wischte sie immer schnell aus, wenn sich die Lehrerin näherte.
Das tat ich nicht. Natürlich warnte ich meine Mitschülerinnen: „Ich heiße Ursula und nicht Irmgard, ich werde die Namen, die ich gezwungen bin anzuschreiben nicht auswischen. Natürlich lachten die Betroffenen und glaubten mir kein Wort.- Sie haben es dann erfahren. Ich blieb hart. Geliebt wurde ich nicht - im Gegenteil, aber ich wurde respektiert. Das war mir damals wichtiger - nach allem, was mir die eine oder andere früher angetan hatte, fand ich mich durchaus im Recht.
Später habe ich meinen Töchtern aus meiner Schulzeit berichtet und auch diese Episode nicht ausgelassen. Die Mädchen fanden das ätzend und nannten mich eine Streberin. Damit musste ich nun leben. Finde ich aber immer noch nicht so schlimm; denn meine Töchter lieben und respektieren mich, was will eine Mutter mehr?

Meine Zeugnisse waren inzwischen sehr gut geworden und meine Eltern bedauerten immer mehr, dass sie mich nicht auf die höhere Schule schicken konnten. Alle weiterführenden Schulen verlangten Schulgeld. Die Bücher musste man selbst bezahlen und das Geld für den Bus kam auch noch hinzu. Außerdem meinte meine Mutter, dass man auf einer höheren Schule auch besser gekleidet sein musste, um nicht im Abseits zu stehen. Alle diese Kosten konnten meine Eltern nicht aufbringen. Wir waren schließlich vier Geschwister, und Kindergeld gab es damals auch nicht.

In unserer Siedlung wurde jedes Jahr im Sommer das sogenannte „Kinderfest“ gefeiert. Es gab einen Umzug mit verkleideten Kindern, die geschmückte Kinderwagen schoben oder auf geschmückten Fahrrädern saßen. Das Fest hatte einen Bezug zum Erntedank, dann die Kinder wurden als Blumen, allerlei Gemüse, Bauern, Winzer u.ä. in den Umzug geschickt. Es gab eine Volkstanzgruppe. Irmgard und ich waren auch dabei. Wir konnten beide sehr gut tanzen. Die verschiedenen Schritte lernten wir schnell und hatten außerdem ein ausgeprägtes Taktgefühl. Die notwendigen Kleidungsstücke für die Aufführung auf dem Festplatz wurden von Frau Herkel für uns beide genäht. Ich war dafür sehr dankbar, denn meine Mutter war für so etwas leider zu ungeschickt.

Jugend

Heute frage ich mich manchmal, ob unsere Generation früher reif war oder früher reif sein musste?

Als wir beide 13 Jahre alt waren, fingen wir an, nach den Jungens zu schielen. Irmgard schwärmte für Helmut aus der Parallelklasse, mit dem sie bald auch „ging“. Ich schwärmte für Willi - der nahm aber keine Notiz von mir, er war sehr schüchtern und ich auch. So blieb es bei der Schwärmerei. Im Frühjahr 1953 machten wir zu dritt - Irmgard, Ingrid aus unserer Straße und ich - einen Ausflug in den nahe gelegenen kleinen Wald. Es war ein Sonntag und wir hatten nichts besonderes vor. Im Wald sangen wir die Lieder aus der Schule und alberten herum. Auf einmal sahen wir ein paar Jungen, die etwas älter waren als wir. Sie schlugen gerade ein kleines Zelt auf. Als wir vorüber gehen wollten, fingen sie an mit uns herumzuflaxen. Irmgard, Ingrid und ich fanden das zwar schmeichelhaft, hatten aber auch ein bißchen Angst. Die Jungen waren nicht von hier und wer weiß, was sie im Schilde führten. Hin- und hergerissen blieben wir dennoch stehen und fragten sie nach dem wohin und woher. Sie waren von Duisburg-Hamborn, hatten an dem schönen Sonntag einen Ausflug gemacht und wollten nun zelten. Dieter und Hubert waren Brüder, 17 und 15 Jahre alt. Die Freunde Herbert und Klaus waren etwa im gleichen Alter. Schnell hatten sich Vorlieben gebildet. Dieter interessierte sich für mich, Hubert interessierte sich für Irmgard. Ingrid hatte keinen eindeutigen Verehrer. Wir machten gemeinsam einen kleinen Spaziergang und plauderten über Schule, Hobbys und dergleichen. Ohne dass ich es bemerkte, sonderte Dieter mich und sich von den anderen ab. Irgendwann nahm er meine Hand in die seine. Ich fand das spannend, er war mein erster Verehrer. Dann legte er seinen Arm um meine Schultern. Ab und zu blieben wir stehen und er erklärte mir die Bäume, woran man Buchen, Eichen, Ulmen usw. erkennt. Ich hatte zwar auch Ahnung davon, ließ ihn aber erzählen. Er hatte eine angenehme Stimme und eine nette Art zu reden. Er näherte seinen Kopf dem meinen an, das fand ich aufregend und sah ihn mit großen fragenden Augen an. Und ganz behutsam legte er zwei Finger unter mein Kinn, zog mein Gesicht ganz dicht vor das seine und küßte mich zart auf den Mund. Erst war es ein ganz kleiner Schmatz. Ich ließ es mir selig gefallen. Er wurde mutiger und ließ seine Zunge ganz leicht über meine Lippen spielen. Ich hatte schon von einem Zungenkuß erzählen hören und presste erst ängstlich die Lippen zusammen. Er war aber so zärtlich und behutsam, dass meine Lippen ganz weich wurden und sich schließlich ein ganz klein wenig öffneten. Seine Zunge streichelte das Innere meiner Lippen, ich wagte mich im Gegenzug, das gleiche bei ihm zu tun. Das Ganze dauerte kaum länger als eine halbe Minute, aber für mich war es eine selige Ewigkeit. Ich war wie verzückt. Wir trennten uns langsam voneinander und gingen Hand in Hand zu den anderen zurück. Diesen ersten Kuß werde ich nie vergessen. Es war inzwischen so spät geworden, dass es für uns Mädchen Zeit wurde, nach Hause zu gehen. Wir tauschten noch unsere Adressen aus. Eine kurze Zeit haben wir uns noch geschrieben. Das war’s, ich habe Dieter nie wieder gesehen. Er war meine erste Liebe.

Meine acht Volksschuljahre gingen dem Ende entgegen und wir überlegten, was ich denn nun lernen sollte. Ich wollte immer noch gerne Schneiderin werden, aber jetzt war meine Mutter doch dagegen. Ich hatte eine schlechte Haltung und die würde sich an der Nähmaschine kaum bessern. Ich würde nur einen krummen Rücken bekommen.
Mein Großvater väterlicherseits nahm sich der Sache an. Er war bei Krupp lange Jahre Leiter der Lehrwerkstatt in der Metallverarbeitung gewesen und außerdem in unserer Kruppschen Siedlung Leiter des Siedlungsvorstandes.
Er kam eines Tages zu uns und eröffnete meinen Eltern und mir, dass er vorhabe, mich bei Krupp auf dem Büro unterzubringen. „Die Ursula hat so gute Zeugnisse, dass sie mehr leisten kann als hinter dem Ladentisch zu stehen.“ War seine Rede. Also nahm er mich mit zur Kruppschen Wohnungsbaugesellschaft - dort kannte er ein paar maßgebliche Leute durch die Siedlungsarbeit - stellte mich dort vor und fragte nach, ob ich eine Chance hätte, dort eine Bürolehre zu absolvieren. Die Herren zeigten sich großzügig und meinten: „Sie muß auf jeden Fall die Aufnahmeprüfung bestehen, wenn sie das schafft, trotz der fehlenden ‘Mittleren Reife’, dann stellen wir sie ein.“

In meiner Klasse gab es etwa sechs Mädchen, die eine Bürolehre machen wollten. Ich gehörte nicht dazu, weil ich ja eigentlich Schneiderin werden wollte. Unsere Lehrerin hatte auch alle Bürointeressentinnen gewarnt, nicht zu optimistisch zu sein, weil die Arbeitgeber lieber Schülerinnen mit Mittlerer Reife ausbildeten.
Durch die Vermittlung meines Großvaters wurde ich also zur Aufnahmeprüfung eingeladen. Etwa 20 Prüflinge, Jungen und Mädchen, saßen in einem Raum und mußten eine Rechenarbeit, einen Aufsatz und ein Diktat schreiben und eine mündliche Prüfung ablegen. Ich war damals 13 Jahre alt und bei weitem die Jüngste, wie ich schätzte. Wahrscheinlich hatten die anderen alle die „Mittlere Reife“.

In der mündlichen Prüfung wurde ich gefragt, welche drei Städte die größten der Welt seien. Als erstes nannte ich New York, da war ich sicher, das hatte ich in der Schule gelernt. Welches die zweit- und drittgrößten Städte waren, davon hatte ich keine Ahnung. Als Deutsche und gute Katholikin nannte ich Berlin und Rom. Die Herren schmunzelten und klärten mich darüber auf, dass es hätte heißen müssen „London und Tokio“. Die zweite mündliche Frage sah so aus: Ein Prüfer warf einen Bleistift in die Luft, der prompt auf den Boden fiel und fragte mich, warum das so ist. Ich stotterte etwa so:: „Das ist, weil die Erde alles festhält, ganz egal ob hier bei uns, oder in Afrika oder am Nordpol, wenn sie das nicht täte, flögen wir alle in der Welt herum und ständen und säßen nicht in diesem Raum.“ Wieder grinsten die Herren und ich war erlöst. Ich kam mir reichlich blöd vor und es war mir klar, dass meine mündliche Prüfung nicht so gut gelaufen sein konnte. Aber ich hatte damals keine anderen Worte, um die Anziehungskraft der Erde besser zu beschreiben.

Wenige Wochen später wurde ich zum Vorstellungsgespräch in das Personalbüro der Kruppschen Wohnungsbaugesellschaft geladen. Mein Großvater war dabei. Der Personalchef hielt sich nicht lange bei der Vorrede auf und kam sofort auf das Diktat zu sprechen. Dreizehn Fehler im Diktat, das sei zu viel. Ich war entsetzt. Dreizehn Fehler, nie im Leben. Ich war gut in Rechtschreibung und ich wusste das. Also sagte ich kleinlaut und selbstbewußt zugleich: „Das kann ich mir nicht vorstellen, ein paar Zeichenfehler räume ich ein, vielleicht auch einen Flüchtigkeitsfehler, aber dreizehn, niemals!“ Der Personalchef, Herr Weber, lächelte süffisant und sagte: „Sie haben kruppsche Krankenanstalten, kruppscher Konsum, kruppsche Wohnungsbaugesellschaft, kruppsche Krankenkasse, kruppscher Stahl, kruppsche Familie, kruppsche Fabriken, kruppsche Hüttenwerke, kruppsche Siedlungen ... alles klein geschrieben. Das hätte alles groß geschrieben werden müssen.“ Ich staunte und begriff: „Ach Sie meinen, weil das alles feste Begriffe sind wie ‘Heiliger Geist’...?“ Er grinst breit und nickte. „Aber“, erwiderte ich, „bei uns in der Schule wurde ein Fehler, wenn er sich wiederholte, immer wie ein Fehler gerechnet?“ „Hier aber nicht“, entgegnete er, „weil es sich ja um verschiedene Begriffe handelt, die nur alle mit ‘Kruppsche’ beginnen.“ Ich war platt und fühlte mich wieder einmal ungerecht behandelt.

Trotzdem bekam ich nach ein paar Wochen den Einstellungsbescheid. Hier muß ich erwähnen, dass Mädchen damals bei Krupp nur zur Bürogehilfin ausgebildet wurden. Die Ausbildungszeit umfasste zwei Jahre. Nur die Jungen bekamen einen Vertrag über die Ausbildung zum kaufmännischen Angestellten.
Man empfahl mir, einen Stenografie- und Schreibmaschinenkurs zu besuchen. Da kamen wieder Ausgaben auf die Familie zu. Mein zukünftiger Schwager, der schon länger bei Krupp war und auch dort gelernt hatte meinte, dass kein Weg am Stenokurs vorbeiging, aber Schreibmaschine könnte ich im Werksunterricht von Krupp lernen, der einmal wöchentlich vormittags stattfand.

Gesagt getan. Ich meldete mich im Stenoverein zum Anfängerkursus an. Steno war spannend und ich lernte schnell. Danach kam der Kurs für Fortgeschrittene und dann die Eilschrift. Schließlich mußte ich bei der Abschlußprüfung in zwei Jahren 150 Silben pro Minute schaffen.
Im Werksunterricht setzte ich mich mit der Schreibmaschine auseinander. Ich glaube, ich war die einzige, die noch nie vor so einem Ding gesessen hatte. Der Lehrer gab mir eine Vorlage, erklärte die Tastatur und überließ mich meinem Schicksal. Also fing ich an mit asdf jklö, immer wieder diese Buchstabenfolge, bis ich sie flink und auswendig schrieb. Dann kamen weitere Buchstaben hinzu: asdedf jkiklö usw. Einmal in der Woche saß ich an dieser alten schwarzen Schreibmaschine und übte. Im Büro hatte ich kaum Gelegenheit zum Üben. Man hatte dort vielerlei Aufgaben für mich, so dass ich kaum etwas für meine persönliche Bürobildung - sprich Schreibmaschinenschrift - tun konnte. Zu Hause konnte ich auch nicht üben, wir hatte keine Schreibmaschine.
Einmal in der Woche mußte ich zur Berufsschule. Kaufmännisches Rechnen, Sozial (-ver-sicherungs-)kunde, Schriftverkehr, Bankwesen, Gesellschaftsrecht uvam. konnte ich lernen. Nicht unterrichtet wurde Maschinenschreiben und Stenographie. Es wurde einfach erwartet, dass man diese Fertigkeiten privat erwarb.
Meine Stenokenntnisse machten dank der Kurse gute Fortschritte. Ich nahm erfolgreich an Wettbewerben und Preisausschreiben teil. Im Büro war ich gut gelitten, freundlich zu jedermann; immer gut gelaunt und mit Spaß bei der Arbeit, genoß ich bald einen guten Ruf.
Schon sehr früh vertraute man mir Arbeiten an, die viel mit Rechnungswesen oder Sachbearbeitung zu tun hatten und wenig mit Schreiben.
Der erste Betriebsausflug endete für mich fast mit einem Fiasko. Unerfahren wie ich war, erlag ich dem Charme eines viel älteren Kollegen aus der Technischen Abteilung. Er holte mich zum Tanz, ging mit mir spazieren, küßte mich vorsichtig und machte mir den ganzen Tag Avancen.
Ich habe keine Ahnung ob er wusste, dass ich erst vierzehn Jahre alt war. Jedenfalls bot er mir an, mich nach dem Betriebsausflug mit seinem Motorrad nach Hause zu fahren. Und obwohl mir der Personalchef aufgetragen hatte, sofort nach Ausflug-Ende mit der Bahn unter Aufsicht eines älteren Herren, der in unserer Siedlung wohnte, nach Hause zu fahren, konnte ich der Verlockung nicht widerstehen, einmal mit dem Motorrad durch die Gegend zu brausen und dann auch noch mit diesem charmanten Mann. Er brachte mich also nach Hause, küsste mich noch mal - diesmal etwas leidenschaftlicher - zum Abschied. und das war’s. Jedenfalls dachte ich das. Aber weit gefehlt. Jener ältere Herr, der mich nach Hause begleiten sollte, hatte uns gesehen, hatte den Vorfall gemeldet und ich wurde ins Personalbüro bestellt. Dort machte man mir größte Vorhaltungen, drohte, meinem Großvater alles zu erzählen und behandelte mich, als hätte ich wer weiß was verbrochen. Ich kam mir vor wie ein leichtes Mädchen, das keine Moral kennt. Ich weinte und beteuerte, dass doch gar nichts passiert wäre, dass ich doch nur mit dem Motorrad gefahren bin, weil es so bequem für mich war und überhaupt ... Schließlich ließ man mich gehen mit der Auflage, wenn ich mir noch einmal etwas zuschulden kommen lassen würde, könnte ich ganz zu Hause bleiben.
Der Kollege mit dem Motorrad mußte auch zum Chef. Keine Ahnung, was man ihm erzählt hat, wahrscheinlich hat man ihn über mein Alter aufgeklärt und verwarnt. Er ließ mich fortan in Ruhe und ich ging ihm aus dem Weg. Aber scheinbar hatte ich nun den Ruf, ein leichtes Mädchen zu sein, denn bei allen möglichen Betriebsfesten hängte sich immer wieder der eine oder andere ältliche Mann an mich und versuchte bei mir zu landen. Ein Kollege fummelte mir jedesmal am Hinterteil herum wenn ich neben seinem Bürostuhl stand, um mir etwas erklären zu lassen. Ich wagte es nicht, ihn darum zu bitten, es doch nicht zu tun. Meinen Eltern erzählte ich es auch nicht. Die hätten vermutlich nur gesagt, dass ich ihn wohl herausfordern würde. Gemeldet habe ich es aus dem gleichen Grund auch nicht. Beim gemütlichen Beisammensein am Abend eines Betriebsausfluges zog mich einer aus dem Lokal, legte mich auf einen Gartentisch und wollte meinen Rock hochschieben. Ich brüllte so laut ich konnte, er ließ mich erschreckt los und ich rannte weg. Völlig aufgelöst rannte ich meinem Abteilungsleiter in die Arme. Er fragte: „War was mit dem Kollegen Schmitz?“ Ich fauchte ihn an: „Wieso, haben Sie gesehen wie er mich nach draußen zerrte?“ Als er nickte schrie ich ihn an: „Sie haben es gesehen und mir nicht geholfen?“ „Ja“, meinte er, „ich konnte doch nicht wissen, ob es ihnen nicht recht war!“ Ich war 16 Jahre alt. So schnell war damals der Ruf ruiniert.

Ein Lehrlingskollege hatte mich schon früh gewarnt: „Du bist freundlich zu jedermann, lachst alle an, du musst dich nicht wundern, wenn das mal falsch verstanden wird. Ich war damals mit meinen 15 Jahren zu naiv, um mir vorstellen zu können, was denn schlimm daran sein sollte, zu allen Menschen freundlich zu sein.

Es war im gleichen Jahr, eine Kollegin aus der Berufsschule, mit der ich mich etwas angefreundet hatte, lud mich zu einem Sonntagsausflug ein. Sie war siebzehn und ihr Freund neunzehn. Er hatte ein Auto und wir würden zu viert - er wollte wiederum seinen Freund mitbringen, mit dem Auto ins Blaue fahren. Ich fand das toll und stimmte zu.
Der Freund hieß Bodo, sah nett aus, war 18 Jahre alt und nicht viel größer als ich. Der Nachmittag verlief ganz nett, wenig aufregend. Auf dem Rückweg wurde auf einmal Alkohol ausgepackt. Süße Liköre in schönen Farben machten die Runde. Es war lecker und ich trank mit, ohne eine Ahnung davon zu haben, was da mit mir passierte. Ich wurde immer fröhlicher, dann benommener und als Bodo anfing an mir herumzufummeln war ich wie elektrisiert und fasziniert. Erst streichelte er meine Brüste, dann griff er mir zwischen die Beine und schließlich unter den Slip. Dann öffnete er seine Hose und präsentierte mir seinen Schwanz. Ich hatte noch nie einen errigierten Penis gesehen. Ich nahm das Ding in die Hand, es fühlte sich warm, weich und doch stramm an. Ich streichelte ihn und küsste ihn schließlich. Ich war so betrunken, dass mir nur noch meine Gefühle wichtig waren,.der Verstand war ausgeschaltet. Mehr passierte nicht - ich hatte Glück. Wahrscheinlich war ich viel zu betrunken und Bodo viel zu anständig, um die Situation weiter auszunutzen. Es waren meine ersten sexuellen Erfahrungen.

Die beiden Jungs setzten uns vor dem Haus von Evelyn ab und fuhren weiter. Evelyn schleppte mich ins Haus - und dann habe ich mich übergeben - aus dem geöffneten Fenster im Erdgeschoß auf die Außenfensterbank ins Freie. Evelyn schickte mich zu einem Telefon, ich sollte zu Hause anrufen und Bescheid sagen, dass ich bei ihr übernachten würde. Ich irrte draußen herum und überlegte, wo ich denn anrufen könnte? Wir hatten zu Hause kein Telefon, nur der Pfarrer, der meinem Elternhaus gegenüber wohnte hatte Telefon. Aber ich hatte erstens keine Telefonnummer und zweitens habe ich mich geniert. Also unternahm ich gar nichts. Ich ging zurück zu Evelyn und legte mich dort ins Bett.
Am nächsten Morgen, es war Montag und ich hätte arbeiten sollen, fuhr ich mit Bahn und Bus nach Hause. Meine Eltern waren in großer Sorge und meine Mutter empfing mich mit Erleichterung und Wut.
Ich machte mich frisch, zog mich um und fuhr zur Arbeit. Gegen 10.30 Uhr tauchte ich dort auf. Mein Chef bat mich in sein Büro und ich erzählte ihm zögernd, ich sei beim Arzt gewesen, weil mir an dem Morgen nicht gut war. Mein Chef, Herr Küchler, wurde böse und sagte mir auf den Kopf zu, dass ich ihn anlügen würde. Mein zukünftiger Schwager, der auch bei Krupp arbeitete hatte inzwischen dort angerufen um zu fragen, ob ich wohl dort wäre.
Also blieb mir nichts anderes übrig, als meinem Chef zu erzählen, was wirklich passiert war. Er fragte mich dann: „Warum haben Sie das denn nicht gleich erzählt?“ „Ich habe mich so geschämt,“ war meine Antwort, und „ich konnte doch nicht ahnen, dass Sie für so einen Fehler Verständnis aufbringen würden!“ Er lächelte ganz leicht und meinte: „So kann man sich täuschen, wir machen alle mal Fehler, also lassen Sie sich das eine Lehre sein.!“

Als ich mit 16 Jahren meine Lehre beendet hatte wurde ich dem Büro von Herrn Küchler zugewiesen. Ich bekam den Posten einer Sachbearbeiterin, was meinen Interessen im Büro sehr entgegenkam. Es war eine kleine technische Abteilung, die sich mit den Abrechnungen der verschiedensten Baumaßnahmen beschäftigte. Außer Herrn Küchler und mir gab es noch zwei weitere männliche Kollegen. Der eine war relativ jung - unter dreißig - und hieß Dömpkes, der andere war ziemlich alt, ca. 60 Jahre, hatte ein Holzbein und hieß Baade. Ich kam mit den Kollegen und dem Chef gut aus und fühlte mich in dem Büro wohl.

Herr Küchler feierte gerne und gut. Jeder Geburtstag war ein Anlaß. Es wurde Schnaps eingekauft und die Kollegen aus den anderen Abteilungen kamen um zu gratulieren und ihren Schnaps zu trinken. Herr Küchler trank jedesmal mit ihnen. Nach ein paar Stunden war er regelmäßig betrunken. Er schickte mich dann los neuen Schnaps zu kaufen, auch Zigaretten oder etwas zu essen. Jetzt verstand ich auch, warum er damals, als ich nach meinem Sonntagsausflug mit Evelyn zu spät kam und schließlich den wahren Grund bekannte, so großzügig zu mir war. Er trank gern - und meine kleine Sünde von damals konnte er nachvollziehen. Aber so betrunken er auch manchmal war, er hat mich immer anständig behandelt.

Später habe ich zufällig die Lehrerin der ersten vier Jahre wiedergetroffen. Ich war noch in der Bürolehre und stand mit meiner Kollegin, die ein paar Jahre älter war als ich, in Essen-West an der Straßenbahnhaltestelle. Plötzlich spricht uns eine kleine rothaarige ältere Dame mit Brille an: „Bist du nicht die Marianne Decker?“ fragt sie meine Kollegin. „Ach ja“, sagt die, „und Sie sind Frl. Tilgen“. Sie unterhalten sich also und ich steh’ daneben. Meine Kollegin erzählt, dass sie bei Krupp die Bürolehre macht usw.. Inzwischen hat mich Frl. Tilgen auch erkannt: „Du bist doch die Ursula ...........................“. „Ja“, war meine einsilbige Antwort. „Und was machst Du?“, fragt sie uninteressiert. „Ich bin auch bei Krupp in der Bürolehre, im gleichen Ausbildungsjahr wie Marianne!“ Während ich antwortete wurde mir bewusst, dass ich die Alte verblüffe, dass dies hier meine kleine Rehabilitation ist. Dass ich jetzt endlich den Groll gegen sie begraben kann.
Und richtig, sie staunt, kann es kaum glauben. Gut für mich, dass Marianne meine Aussage bestätigt.

Mit fünfzehn Jahren wurde ich am Blinddarm operiert. Auf meinem Zimmer lag eine ältere Frau, Mutter von drei Söhnen, von denen sie mir ständig vorschwärmte. Klaus und Ferdi hatte ich schon kennengelernt. Sie besuchten ihre Mutter regelmäßig und unterhielten sich auch mit mir. Dann erzählten sie gerne von Egon, dem dritten im Bunde. Er war auf der Polizeischule und die Brüder waren offensichtlich sehr stolz auf ihn. Ich wurde aus dem Krankenhaus entlassen, Egon hatte ich in der Zeit nicht kennengelernt.
Frau Schultes, so hieß die Dame, lud mich ein, sie doch mal zu Hause zu besuchen. Das tat ich dann. Auch dort ist mir Egon nicht begegnet.
Viele Monate später, es war inzwischen Sommer, war ich mit Irmgard auf der Ruhr mit dem Paddelboot unterwegs. Ein paar Schwimmer umkreisten unser Boot und flachsten uns an. auf einmal erkannte ich Ferdi und er mich. Er war ganz aufgeregt und rief: „Egon, komm doch mal her, hier ist die Ursel von der wir dir erzählt haben.“ Egon kam heran geschwommen, und tatsächlich, er sah noch besser aus als seine Brüder. Blondes leicht lockiges Haar, blaue Augen und ein markantes Gesicht. Offenbar fand er mich auch anziehend - wir verabredeten uns für den nächsten Tag, gingen in ein Café, unterhielten uns über Gott und die Welt. vor allen Dingen erzählte er von der Polizeischule in Bocholt, wo er seine Ausbildung absolvierte.
Auf dem Heimweg küsste er mich und wir verabredeten weitere Treffen.
Von da an war ich regelmäßig bei Schultes, wenn Egon dort war. Die Eltern mochten mich und es hätte immer so weitergehen können. Aber dann geschah zweierlei. Kurz vor Weihnachten an einem Samstag saß ich zu Hause in der Küche und flickte die Familienwäsche. Meine kleinen Geschwister wurden gerade in der Küche gebadet. Da wir kein Badezimmer hatten wurde die Zinkwanne in die Mitte der Küche gestellt. Als Sichtschutz standen ein paar Stühle drum herum auf denen Handtücher hingen. Auf dem Herd kochte das fürs Bad bestimmte Wasser. Magdalene saß in der Wanne. Es klingelte, meine Mutter öffnete die Tür und Egon kam herein. Er war das erste Mal bei uns und wurde sofort mit diesem Chaos konfrontiert. Irritiert schaute er sich um, trat verlegen von einem Bein auf das andere und fragte, ob er mich denn so spontan einladen könnte. Meine Mutter war einverstanden. Also ging ich ins Schlafzimmer, zog meine besten Sachen an und wir gingen los.
An dem Abend merkte ich eher intuitiv, dass Egon jetzt erst realisiert hatte, dass ich aus einem sehr einfachen - um nicht zu sagen ärmlichen - Haushalt kam. Schultes hatten natürlich ein Badezimmer, sie hatten ein immer bereites, d.h. ständig geheiztes Wohnzimmer mit einer schönen Polstergarnitur und gediegenen Möbeln. Unser Wohnraum dagegen war weder geheizt noch gemütlich, wie gesagt, Marlies und ich schliefen dort auf einer selbstgebauten Lagerstätte. Und nur sonntags wurde dieser Raum als „Wohnzimmer“ hergerichtet. Das bedeutete, wenn überraschend jemand kam, konnte man ihn nicht ins Wohnzimmer führen. Jeder Besucher mußte in die kleine Allzweckküche.

Kurze Zeit nach diesem überraschenden Besuch von Egon - es war noch vor Weihnachten - trafen wir uns wieder bei seinen Eltern. Später brachte er mich an die Straßenbahn, an der Haltestelle küsste er mich leidenschaftlich, fummelte in meinem Ausschnitt herum und langte mir schließlich zwischen die Beine. Das tat er keineswegs zärtlich sondern ziemlich fordernd. Ich erschrak zutiefst und wehrte ihn entschieden ab mit der Bemerkung: „Bitte nicht, ich bin doch erst 16 Jahre, ich kann das nicht.“ Egon wurde wütend: „Ich bin doch kein Klosterbruder? Ich bin ein Mann mit Bedürfnissen, und wenn du nicht bereit bist auf mich einzugehen, dann liebst du mich nicht.“ „Bitte laß mir etwas Zeit, ich habe sowas noch nie gemacht.“ erwiderte ich. Er ließ mich los, die Bahn kam und unser Abschied war ziemlich kühl.
Ein paar Tage später kam ein Brief von Egon. Er machte Schluß mit mir. Er habe sich in mir getäuscht.
Ich war verzweifelt, ich war wütend und zerriss sein Bild, ich weinte heftig und habe wochenlang getrauert. Das war mein erster richtiger Liebeskummer.

Dann kam Gerdt. Irmgard war auf eine Fete eingeladen und durfte jemanden mitbringen. Wir waren immer noch Freundinnen - obwohl durch die unterschiedlichen Berufe inzwischen etwas mehr Abstand zwischen uns entstanden war. Also fragte sie mich und ich ging mit ihr auf meine erste Fete. Es waren ca. 12 Jungen und Mädchen dort. Um 10 Uhr musste ich zu Hause sein, so dass ich kaum Gelegenheit hatte, jemanden näher kennenzulernen. Aber ein Teil der Gäste hatte sich für den nächsten Tag zu einem Spaziergang verabredet. Irmgard und ich waren auch dabei. Alle liefen und redeten wild durcheinander, jemand erzählte einen Witz und alle lachten und dann fasste mich jemand an der Hand. Ich wusste, dass er Gerdt hieß. Am Abend vorher hatte ich ein paarmal mit ihm getanzt. Er hielt mich fest und wir blieben eine Weile stehen, bis die anderen ein Stück voraus gegangen waren. Dann sah er mir tief in die Augen und sagte: „Ich liebe schwarze Katzen.“ Ich war einigermaßen verwirrt, fühlte mich aber durchaus geschmeichelt. War doch da jemand, der mein dunkles Haar mochte. Von da an waren wir zusammen, d.h., es war eine Freundschaft in Etappen. Gerdt war 1,78 m groß, hatte braune Augen, dunkles glattes Haar und war schlank. Stets umgab er sich mit einem Flair von Abenteuer und Geheimnis. Er nannte mich Prinzessin oder Mylady oder nach einem Spanienurlaub hieß ich Chicita. Er fuhr immer allein in Urlaub, er redete immer in Rätseln darüber. Ich glaube, er war damals schon ein „Rucksacktourist“, denn Geld für einen „richtigen“ Urlaub besaß er genau so wenig wie ich. Er arbeitete bei Krupp als Modellbauer, Tagsüber telefonierten wir oft miteinander, er aus der Werkstatt und ich aus dem Büro. Da es betriebsinterne Gespräche waren, kosteten sie uns nichts - bis auf die Arbeitszeit. Ich glaube, wir haben es damals sehr übertrieben und die Gespräche waren für zufällige Zuhörer eher nervig. Mein Chef, dessen Bürotür zum Vorzimmer, in dem ich saß, immer offenstand, war es eines Tages leid. Plötzlich kam er spontan aus einem Büro, schaute mich unwillig an und schloß die Tür. Das schien aber nicht zu helfen, da er gerne bei offener Türe arbeitete. Also wurde ich aus dem Vorzimmer entfernt und in ein Nebenbüro verbannt. Da ich sowieso nicht mit Sekretariatsarbeiten sondern mit Sachbearbeitung betraut war, machte es bürotechnisch keinen Unterschied. Ich wundere mich, dass er mir diese ewig langen, nichtssagenden Telefonate nicht verbot. Ich war 16 Jahre alt und hätte mich sicher daran gehalten. Aber nein, er verbannte mich lediglich aus seinem „Hörbereich“.

Gerdt und ich sahen uns regelmäßig am Wochenende. Unter der Woche hatten wir keine Zeit. Ich sang im Kirchenchor, war in einer Volkstanzgruppe, ging zur Volkshochschule um Englisch zu lernen. Später besuchte ich dort auch noch einen Nähkurs. Nach einem halben Jahr machte Gerdt Schluss. Seine Begründung: Das wird mir alles viel zu eng. Ich brauche meine Freiheit. Wir hielten die Trennung ein knappes viertel Jahr aus, dann waren wir wieder zusammen. Der Rhythmus änderte sich nicht. Wir trafen uns regelmäßig sonntags, gingen spazieren, knutschten ein wenig (in aller Unschuld), redeten über Gott und die Welt und die Woche konnte von Neuem beginnen. Nach einem weiteren halben Jahr machte Gerdt wieder Schluss. Begründung: siehe oben. Auch die spätere Versöhnung folgte wieder nach etwa 8 Wochen. Inzwischen war ich 17 ½ Jahre und Gerdt 20. Diesmal hielt unsere Beziehung etwas länger. Wir hatten zwar immer noch kein Geld, um ins Kino zu gehen oder in ein Restaurant, aber Gerdt hatte Ideen, wir gingen ins Museum, wenn es dort einen Sonderpreis gab. So habe ich z.B. Bekanntschaft mit van Gogh gemacht. Gerdt interessierte sich sehr für Malerei und führte mich in dieses Thema ein. Oder wir gingen zu einer Balettaufführung der Folkwangschule. Es gab „Peter und der Wolf“ von Prokoffief und ich war begeistert. In diesem Winter - wir hatten gerade mal wieder eine Pause in unserer Beziehung, ging ich zu einem Fest, zu der die Alten in der Siedlung eingeladen waren. Die Alten durften auch Angehörige Mitbringen, also fragte meine Oma, ob ich Lust dazu hätte. Ich hatte, zumal es auch eine Tanzkapelle gab - und ich tanzte für mein Leben gern. Dort lernte ich einen jungen Mann kennen. Er tanzte den ganzen Abend mit mir, lud mich zwischendurch zu einem Drink ein und tanzte wieder mit mir. Dann gab es wieder einen Drink usw. ...
Irgendwann war ich ziemlich angetrunken und wollte nach Hause. Er bot sich sofort an, mich nach Hause zu bringen. Ich fand das sehr aufmerksam. Wir zogen also los. Und kaum war ich an der frischen Luft, ging es mir noch schlechter. Ich hing an seinem Arm. Unterwegs fing er irgendwann an mich abzuknutschen. Er fummelte an mir herum, ich fing an mich zu wehren, er ließ nicht locker, er schob meinen Rock hoch... Meine Erinnerung besteht hier nur aus Bruchstücken. Dann tat es auf einmal zwischen meinen Beinen sehr, sehr weh. Ich schrie aus Leibeskräften und wehrte mich und schrie immer weiter. Von meinem Geschrei erschreckt ließ er von mir ab, das war auch gut so, denn einige Jungen aus unserer Siedlung hatten mich gehört, kamen gelaufen, drohten dem Typ Prügel an und brachten mich nach Hause - sie kannten mich und wussten wo ich wohnte. Ich selbst war zu nichts mehr in der Lage - ich kann mich auch nicht mehr erinnern. Meine Mutter erzählte am nächsten Morgen, dass die Jungens mich gebracht hätten. Zu Hause habe ich dann erst einmal fürchterlich gebrochen. Am nächsten Morgen sah ich, dass mein Schlüpfer blutig war. Ich war zu Tode erschrocken. Meine Tage konnten es nicht sein, also war meine Unschuld dahin. Ich hatte zwar noch nie mit einem Mann geschlafen, wusste aber sehr wohl, dass die geraubte Unschuld blutige Tränen weint. Gerdt hatte mich immer geschont: „Dafür bist du mir zu schade!“ War seine Rede. Nun war es passiert - und das von einem wildfremden Mann, der meine Trunkenheit ausnutzte. Warum hatte ich auch nicht auf meinen Vater gehört, der hatte immer gewarnt: „Die Männer machen die Mädchen betrunken und dann fallen sie über sie her. Hüte dich davor!“ Ich war ja so naiv. Dann tauchte die Angst auf, von dem einen Fehltritt schwanger zu sein.... Der Typ von gestern hatte mir erzählt, dass er bei einer mir bekannten Familie zur Untermiete wohnt, und da ich genau wissen wollte, was passiert war, machte ich mich auf den Weg. Die Wohnung der Untervermieter war etwa 10 Minuten entfernt. Ich klingelte, die Hausfrau öffnete, und so verlegen ich auch war, tapfer fragte ich nach dem Typ, dessen Namen ich heute nicht mehr weiß. Sie führte mich in einen Wohnraum, der Typ erschien nach kurzer Zeit und ich fragte rundheraus: „Was hast du mir gestern angetan? Ich habe Blut in meiner Unterwäsche gefunden, hast du mich entjungfert? Besteht die Gefahr, dass ich schwanger bin?“ „Nein“, antwortete er: „So weit ist es gar nicht gekommen, du hast sofort dermaßen geschrien, dass ein paar junge Männer dich gehört haben, die dich dann mitgenommen haben. Ich wusste ja nicht, dass du noch unberührt warst. Es tut mir leid.“ Teilweise war ich erleichtert, aber sagte dieser Mensch auch die Wahrheit? Bis zur nächsten Periode habe ich in einer Angst gelebt, die man kaum beschreiben kann. Ich war so streng erzogen, mein Vater war ein harter Mann, was würden die Eltern mit mir machen, wenn ich schwanger wäre? Sie würden mich wahrscheinlich rausschmeißen und in ein Erziehungsheim stecken.
Mit irgend jemand musste ich darüber reden. Gerdt war der Einzige, zu dem ich so viel Vertrauen hatte. Ich rief ihn an: „Gerdt, es ist etwas Furchtbares passiert, ich muss dich dringend sprechen.“ Er war sofort bereit. Wenn wir auch wieder einmal „Funkstille“ hatten, ein guter Freund blieb er trotzdem. Wir sahen uns, ich erzählte ihm alles, er nahm mich in den Arm und erklärte mir was ich noch nicht wusste. Ich hatte keine Ahnung von Ejakulation, von Samenfäden und dem Eisprung. Heute kann sich ein Mädchen von knapp 18 Jahren kaum vorstellen, wie dumm meine Generation in sexueller Hinsicht war. Ich war so froh, dass ich Gerdt hatte, er war verständnisvoll und besorgt.
Es wurde Frühling. Gerdt und ich hatten eine gute Zeit - aber eines hatte sich verändert, er sah ab jetzt auch die Frau in mir. Und er wollte nun auch mit mir schlafen. Auf einem Spaziergang ist es das erste Mal passiert, dass er in mich eindrang. Ich lies es geschehen, da ich ihn liebte und unschuldig war ich ja auch nicht mehr. Aber er passte auf, er ging „vor dem Segen aus der Kirche“, wie man den koitus interruptus damals nannte. Wenn seine Eltern nicht zu Hause waren, trafen wir uns bei ihm und schliefen miteinander. Ich habe es geschehen lassen, dachte, dass ich ihn dadurch mehr an mich binde. Einen Orgasmus hatte ich dabei nie. Von Vorspiel hatte er scheinbar keine Ahnung. Irgendwann sprach ich wohl von Verlobung usw. Für mich stand fest, Gerdt war der Mann, mit dem ich mein Leben verbringen wollte. Darüber mit ihm zu reden war der größte Fehler. Mein freiheitsliebender Gerdt bekam „Muffensausen“. Er brach wieder einmal die Beziehung ab - und diesmal schien es endgültig zu sein.
Oh Gott, war ich unglücklich. Meine Mutter konnte mich kaum beruhigen. Tagelang habe ich geweint. Ich konnte kaum noch essen und wurde immer weniger. Der Hausarzt diagnostizierte eine vegetative Dystonie und verordnete einen Kuraufenthalt.

Im Herbst, in Bad Orb, lernte ich dann meinen späteren Mann kennen. Er war fast 14 Jahre älter als ich, eine stattliche Erscheinung. Er bedrängte mich ... und ich ging mit ihm ins Bett................Drei Tage vor der Beendigung der Kur fragte er mich, ob ich seine Frau werden wolle. Ich erbat mir Bedenkzeit und er willigte ein. Aber bevor wir nach Hause reisen würden, wollte er eine Antwort von mir. Nachdem ich alle Für und Wider abgewogen hatte nahm ich seinen Antrag an. Die Gründe dafür: Ich hatte mit ihm geschlafen und er wollte mich heiraten, wenn ich seinen Antrag ablehnen würde, wäre ich eine „Hure“. Natürlich war ich auch in ihn verliebt. Außerdem war es zu Hause ziemlich eng - mit nunmehr 5 Personen auf 55 qm. Marlies hatte kurz vorher geheiratet. Zwar schlief ich jetzt im eigenen Bett - aber trotzdem - und dann der strenge Vater... Es war eben auch verlockend, aus der Enge des Elternhauses auszubrechen.
Weihnachten verlobten wir uns. Im Februar fand die standesamtliche Hochzeit statt und am 2. April wurde kirchlich geheiratet. Ich war gerade 19 Jahre alt geworden. Im Oktober des gleichen Jahres kam meine erste Tochter zur Welt.

Noch vor der standesamtlichen Hochzeit traf ich ganz zufällig auf dem Weg zur Arbeit meinen abtrünnigen Gerdt. Um ihn zu ärgern oder um ihm zu imponieren oder um ihn doch noch zu gewinnen, zeigte ich ihm meinen Verlobungsring. Scheinbar glaubte er mir kein Wort. Er lächelte diabolisch und sagte, er sei auch inzwischen verlobt. Das stimmte natürlich nicht. Welcher Teufel hat uns diesen Streich gespielt?
Als ich verheiratet war und meine Eltern besuchte, nahm ich Kontakt zu Gerdt auf. Wir trafen uns, sprachen uns aus. Wir hielten uns an den Händen und schauten uns lange an. Ich gestand ihm, dass ich immer nur ihn geliebt habe und er sagte darauf. „Ich liebe dich auch immer noch!“ Das war die Wahrheit, ich habe es gespürt.
Gerdt war meine große Liebe, ich habe ihn nie wiedergesehen und ihn nie vergessen.

Ende

Ergänzung: Jahrzehnte später habe ich im Internet nach Gerdt geforscht. Warum auch immer - ich habe ihn nicht gefunden. „Er ist sicher ausgewandert“, dachte ich, oder „der abenteuerliche Mensch ist vielleicht verunglückt und lebt nicht mehr“! Ich habe wiederum um ihn getrauert.
Etwa ein Jahr danach kam ein junger Mann in unseren Chor. Als ich ihn sah, haute es mich fast um - er hatte so eine Ähnlichkeit mit meiner Jugendliebe, dass es mich faszinierte und schmerzte zugleich.
Irgendwann erzählte ich ihm von Gerdt, brachte alte Fotos mit zum Beweis, dass er ihm sehr ähnlich war. Ich unterhielt mich gerne mit ihm. Er nahm mich etwas auf den Arm - aber das machte mir nichts, irgendwie hatte ich mit ihm ein Stück Jugend wieder gewonnen.
Nun hat er den Chor verlassen - und ich habe noch einmal im Internet nach Gerdt geforscht. Und siehe da, auf einmal hatte ich jemanden mit dem Namen gefunden. Telefonnummer und Anschrift waren aus Essen. Spontan rief ich dort an. Es meldete sich ein Anrufbeantworter: „Das ist der Anschluss von Birgit und Gerdt.............“
Sofort habe ich aufgelegt. Mir schlug das Herz bis zum Hals. War er es - oder ein Namensvetter? Ein paar Tage später versuchte ich es wieder, und wieder war nur der Anrufbeantworter dran. Dann ein paar Tage später wieder das Gleiche. Zunächst gab ich es auf. Ich mutmaßte: „Der ist bestimmt in Urlaub - oder sogar auf Weltreise!“
Einige Wochen später fasste ich mir ein Herz und rief nochmal an. Diesesmal mit dem festen Vorsatz auf Band zu sprechen, wenn der AB wieder laufen sollte. Und so war es. Ich hinterließ meinen (Mädchen-)Namen und meine Telefonnummer, mein Anliegen, bat um Rückruf falls er es sein sollte und entschuldigte mich für den Fall, dass es ein Namensvetter wäre.
Als ich aufgelegt hatte zitterten mir nicht nur die Hände, mein ganzer Körper bebte. Nun hieß es abwarten. Einen Tag später, ich saß mit meinem Mann am Mittagstisch, läutete das Telefon. Ich hob ab, meldete mich und am anderen Ende der Leitung sagte jemand: „Schraven“. Das war sein Nachname. Ich sagte atemlos: „Gerdt“ „Ja, ich bin es wirklich“ kam die Antwort zurück. Ich war garnicht nervös, ich war erleichtert, endlich hatte ich ihn gefunden. Wir unterhielten uns sicher eine Stunde lang am Telefon. Erzählten uns unsere Lebensläufe, sprachen von früher. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. 50 Jahre waren inzwischen seit unserem ersten Treffen vergangen, aber zwischen uns war sofort wieder die alte Vertrautheit. Nun hoffe ich sehr, dass wir die Verbindung halten - und wenn es nur telefonisch ist. Oder wir schreiben uns e-mails.
Sept. 2006





29.10.2006
Wir haben uns gesehen. Er ist grau geworden - klar, mit 69 ist keiner mehr jung. Ich wäre sicher auch grau, wenn ich meine Haare nicht färben würde.
Seine Haltung, sein vermitztes Lächeln - alles genau wie früher. Trotzdem mußte ich mich erst an die neue Optik gewöhnen, obwohl seine Augen noch genau so schelmisch gucken wie früher. Aber nach sehr kurzer Zeit war die alte Vertrautheit wieder da. Wir waren beide wieder jung - konnten über alles reden. Die Zeit war wie weggewischt. Schön, dass wir uns gesehen haben. Wir können die Zeit nicht zurück drehen - aber wir können vielleicht für die Zukunft gute Freunde sein.